»Wenn du dich in Trance begeben willst, gehe ich mit dir und sorge dafür, daß du dich daran erinnerst zurückzukehren!« sagte sie scharf. »Ich habe nicht mehr die Möglichkeit, dich dazu zu zwingen wie damals.«[2]
Lalo hatte keine Ahnung, was sie damit meinte, doch jetzt war keine Zeit, sie danach zu fragen. »Wenn du es kannst, gut. Zweifellos hast du das Recht dazu«, sagte er. »Aber ob überhaupt einer von uns auf diese Weise dorthin gelangen kann?« Er zweifelte plötzlich an seinem Einfall. Trotzdem lehnte er die Karte gegen das Glas, so, daß sie beide sie sehen konnten, und deutete auf den anderen Sessel.
Er knarrte, als Gilla sich in ihm niederließ. Sie faltete die Hände im Schoß, dann blickte sie Illyra an. »Falls es funktioniert, dann sorge bitte dafür, daß uns auf keinen Fall jemand stört. Und im Namen deiner Lillis, kümmere dich um mein Kind!«
Die S’danzo schluckte, dann nickte sie und ihre Finger verkrampften sich um das feuchte Tuch, das sie in der Hand hielt. »Möge eure Göttin euch beschützen«, flüsterte sie und wandte sich rasch wieder Latilla zu.
»Und jetzt?« fragte Gilla ihren Mann. Lalo holte tief Luft.
»Randal hat mich einiges darüber gelehrt«, sagte er bedächtig. »Du mußt gleichmäßig atmen und dich entspannen. Schau auf die Karte, bis du sie dir gut eingeprägt hast. Dann versuche, durch das Tor auf den Ort dahinter zu blicken. Wenn du ihn sehen kannst, dann bewege dein Bewußtsein darauf zu und durch…« Er blickte sie zweifelnd an. Als es ihm der Zauberer so beschrieb, hatte es vernünftig geklungen, doch jetzt befürchtete er, daß er sich zum Narren machte.
Da wimmerte Latilla wieder, und Gilla streckte die Hand nach seiner aus. Lalo atmete noch einmal tief ein und konzentrierte sich auf das Tor.
Auch jetzt begann das üppige Grün Lalos inneres Auge zu beherrschen und zu wirbeln. Er kämpfte gegen das Bedürfnis an, zu blinzeln und woanders hinzublicken, und versuchte, sich vorzustellen, er hielte einen Pinsel in der Hand. Schau! befahl er sich und atmete gleichmäßig. Nun war alles, was er noch spüren konnte, der Druck von Gillas warmer Hand. Würde sie ihn auf der Erde festhalten? Doch noch während er sich das fragte, beruhigte sich das wirbelnde Grün und nahm feste Form an – Blätter wiegten sich im Sonnenschein. Er stieß sich darauf zu, und dann war der Garten rings um ihn. Er war durch!
Einen Moment lang fühlte Lalo nur den weichen Rasen unter den Füßen und die duftende Luft, die ihresgleichen in Freistatt nicht fand. Dann wurde er sich bewußt, daß er nicht allein war. Er drehte sich um und zuckte zurück, als er die Göttin sah, die er an Molin Fackelhalters Wand gemalt hatte. Sie lächelte, und ihr Gesicht war plötzlich das des goldenhaarigen Mädchens, um das er im Frühling der Welt gefreit hatte, und dann waren beide Gillas Gesicht, ganz und gar Gilla, die ihn anblickte wie damals, nachdem sie sich zum ersten Mal geliebt hatten.
Doch der Garten war nicht mehr so schön, wie er ihn in Erinnerung hatte. Der Rasen war teilweise verdorrt, während er an anderen Stellen die häßlichen Flecken zeigte, die nur Hochwasser hinterlassen konnte. Ähnliches traf auf die Eichen zu, von denen viele Blätter von einer Pilzkrankheit befallen waren, die an Aussatz denken ließ.
»Auch hier ist es«, sagte Gilla. »Das gleiche, was in Freistatt geschehen ist.«
Lalo nickte und fragte sich, auf welcher Ebene es begonnen hatte. Doch das spielte nicht wirklich eine Rolle – wichtig war nur, daß er erfuhr, wie alles geheilt werden konnte. Er faßte Gilla bei der Hand, und sie schritten durch das fleckige Gras unter den Bäumen.
Es dauerte eine Weile, bis er den Teich und den Wasserfall fand. Aber die Lichtung, auf der er mit den Göttern Ilsigs gespeist hatte, war leer. Lalos Herz wurde schwer. Wenn selbst die Götterwelt leer war, mußte die Magie Freistatts wahrhaftig zerstört sein. Vielleicht hatte die S’danzo recht, und die Götter waren wirklich nur ein Wahn der Menschen. Doch noch während ihm dieser Gedanke durch den Kopf zuckte, bewegten seine Lippen sich im Gebet.
»Vater Ils, erhöre mich! Shipri Allmutter, laß Gnade walten! Nicht um meinetwillen, sondern um unseres Volkes…«
»Und um meines Kindes!« vernahm er Gillas Stimme.
Ein Windstoß pfiff an ihnen vorbei und riß ein Blatt von einer Eiche. Lalo beobachtete fasziniert, wie es herunterwirbelte und schließlich in Gillas Ausschnitt zu liegen kam. Da ertönte eine neue Stimme hinter ihnen.
»Warum fleht ihr Ils und Shipri an? Dies ist das Antlitz, zu dem die Freistätter nunmehr beten!«
Lalo wirbelte herum. Er zuckte heftig zusammen, als er sah, wer auf ihre Anrufung erschienen war, dann stolperte er über seine eigenen Füße, während er versuchte, sich schützend vor Gilla zu stellen. Aber sie war schon immer kräftig und standfest gewesen, und sie faßte nach seinem Arm und blieb neben ihm.
Die Gestalt, die gesprochen hatte, lachte über seine Verwirrung. Lalo starrte sie an und erkannte entsetzt, daß es eine Frau in versengtem Gewand war, von dem bleiche Rauchfähnchen gespenstisch aufstiegen, und daß ihr ebenfalls versengtes Haar sich aufstellte und vom Wind zu Flammen angefacht wurde. Ihr Gesicht glühte wie eine Laterne, als käme das Feuer, das sie verbrannte, aus ihrem Innern, und die Züge waren zur dämonischen Maske verzerrt.
»Dyareela!« flüsterte er verstört.
Die Göttin dankte ihm mit einem furchterregenden Lächeln. »Stimmt, dies ist einer der Namen, den die Menschen mir geben, wenn sie zu mir beten. Doch du warst es, die mich als erstes rief, Tochter.« Sie winkte Gilla zu. »Wie soll ich dich belohnen?«
»Heb dich hinweg, Dämonin!« zischte Gilla vor Abscheu.
Dyareela lachte. »Du verstehst nicht! Ich komme weder, noch gehe ich – ich bin! Nur mein Gesicht ändert sich…«
»Dann ändere es wieder!« stöhnte Lalo.
»Drei Hochzeiten wurden versprochen, eine davon eine kaiserliche, um das Land wiederherzustellen! Ich wäre zu ihnen als Göttin des Liebesfeuers gekommen! Aber Freistatt wollte mich anders sehen!« Der Wind wirbelte um sie alle, und wenn die fallenden Blätter das Haar der Göttin berührten, fingen sie Feuer.
»Zeig dein schönes Gesicht, Göttin, bitte, zeig dein schönes Gesicht für uns!« Tränen glänzten in Gillas Augen und schwangen in ihrer Stimme.
»Tochter, an diesem Ort bin ich nur ein Scheinbild, so wie ihr beide nur ein Traum seid. Eure Worte haben hier keine Macht über mich. Wenn ich euch segnen soll, müßt ihr mich in der Welt der Menschen rufen!«
Der Himmel schien sich zu verdunkeln, und das einzige, was Lalo zu sehen vermochte, war die Göttin, die wie eine Dämonenlaterne beim Totenfest leuchtete.
»Wir haben es doch versucht!« rief Gilla verzweifelt. »Aber die Karten hatten keine Kraft!«
»Die Karten hatten nie Kraft, sie lenkten nur die eure. Sorgt dafür, daß die Große Hochzeit in Freistatt wie versprochen stattfindet, dann zeige ich euch wieder mein freundliches Gesicht!«
Wind heulte um sie und Dunkelheit hüllte sie ein, nur von den brennenden Blättern gebrochen, die aufstoben und die kahle Nacht mit Sternen erfüllten. Plötzlich verschwand alles: die Göttin, der Eichenhain, sogar der feste Boden unter ihren Füßen. Vom Wind gepeitscht und herumgewirbelt vergaß Lalo, wer er war und woher er gekommen war, und als er das Bewußtsein verlor, war das letzte, was er spürte, der feste Druck von Gillas Hand.
Gilla fiel durch einen langen finsteren Schacht zurück in ihren Körper. Eine Ewigkeit später versuchte sie, sich zu rühren. Sie war steif und schwer, während sie sich zuvor so leicht bewegt hatte wie… Sie stöhnte und öffnete die Augen.
»Den Göttern sei Dank!« rief Illyra. Im flackernden Lampenlicht sah sie verhärmt aus.