Sie liebte Lukas mehr als jeden anderen Mann, der ihr begegnet war. Er war der Vater ihres Sohnes, der Mensch, den sie auserwählt hatte, ihr Leben zu teilen, jemand, der alles aufgegeben und genug Mut gehabt hatte, mit ihr eine Familie zu gründen. Als ihre Schwierigkeiten begannen, versuchte sie ihm deutlich zu machen, daß dies vorübergehend sei. Daß sie sich ihrem Sohn widmen müsse, aber nicht vorhabe, ihn zu verhätscheln. Es werde nicht lange dauern, dann werde er sein Leben schon weitgehend selber meistern. Dann werde sie wieder die Frau sein, die Lukas bei ihrem ersten Treffen kennengelernt hatte. Vielleicht würde ihr Verhältnis sogar noch intensiver werden, denn sie wäre dann reifer und wisse mehr über ihre eigene Verantwortung innerhalb der Beziehung.
Dennoch fühlte sich Lukas abgelehnt. Sie versuchte verzweifelt, beiden gerecht zu werden, aber sie mußte sich immer wieder zwischen Vater und Sohn entscheiden – und in diesen Augenblicken wählte sie, da gab es nicht den geringsten Zweifel, immer Viorel.
Ich verstand nicht viel von Psychologie, konnte ihr aber sagen, daß ich diese Probleme von meinen seelsorgerischen Gesprächen her kannte. Die Männer fühlen sich in einer Situation wie dieser meist abgelehnt. In einem unserer Gespräche räumte Athena ein, daß sie alles vielleicht etwas überstürzt hätte, die romantische Vorstellung, eine junge Mutter zu sein, habe sie die wahren Herausforderungen, die sich nach der Geburt eines Kindes einstellen, nicht deutlich sehen lassen. Doch für Reue sei es nun zu spät.
Sie fragte mich, ob ich mit Lukas reden könne – der, entweder weil er nicht an Gott glaubte oder weil er die Sonntagvormittage lieber mit seinem Sohn verbrachte, nie in der Kirche erschien. Ich erklärte mich dazu bereit, wenn er aus eigener Entscheidung käme. Aber noch bevor Athena ihm diesen Vorschlag unterbreiten konnte, kam es zur großen Krise, und der Ehemann verließ das Haus.
Ich riet ihr, Geduld zu haben, aber sie war zutiefst verletzt. Sie war schon einmal in ihrer Kindheit verlassen worden, und nun richtete sie den ganzen Hass, den sie für ihre leibliche Mutter empfand, auf Lukas. Sie wurden, wie ich später erfuhr, zwar wieder gute Freunde, aber für Athena war das Zerreißen der familiären Bande die vielleicht größte Sünde, die jemand begehen konnte.
Sie kam weiter sonntags in die Kirche, ging aber anschließend immer sofort wieder nach Hause – denn am Wochenende hatte sie niemanden, bei dem sie den Sohn lassen konnte. Er weinte oft während der Messe und störte die anderen Gläubigen. Bei einem der wenigen Male, die wir miteinander reden konnten, sagte sie mir, sie arbeite in einer Bank, habe eine Wohnung gemietet und ich solle mir keine Sorgen machen. Der >Vater< (sie sprach den Namen ihres Mannes nicht mehr aus) erfüllte seine finanziellen Verpflichtungen.
Bis dann der fatale Sonntag kam.
Ich wußte, was während der Woche geschehen war – ein Gemeindemitglied hatte es mir erzählt. Ich habe einige Nächte lang gebetet, ein Engel möge mich inspirieren, mir erklären, wie ich es anstellen sollte, meine Verpflichtungen der Kirche und den Menschen gegenüber zu erfüllen. Da der Engel nicht kam, habe ich einen Vorgesetzten aufgesucht, der mir sagte, die Kirche könne nur überleben, weil sie streng auf ihre Dogmen achte. Würde sie Ausnahmen zulassen, wären wir seit dem Mittelalter verloren gewesen. Ich wußte genau, was geschehen würde, ich überlegte noch, ob ich Athena anrufen sollte, aber sie hatte mir ihre Nummer nicht gegeben.
An jenem Morgen zitterten meine Hände, als ich die Hostie hochhielt und segnete. Ich sagte die Worte, die die tausendjährige Tradition überliefert hatte, nutzte die Kraft, die von den Aposteln von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Doch dann gingen meine Gedanken zu der jungen Frau, die ihren Sohn auf dem Schoß hielt und mich in ihrem Verlassensein und ihrer Einsamkeit an die Jungfrau Maria erinnerte. Athena hatte sich wie immer gerade in die Schlange eingereiht und kam auf mich zu, um die Kommunion zu empfangen.
Ich glaube, ein Großteil der versammelten Gemeinde wußte, was gleich geschehen würde. Und alle schauten mich an, warteten auf meine Reaktion. Ich sah mich von Gerechten, Sündern, Pharisäern, Mitgliedern des Hohen Rats, Aposteln, Jüngern umringt, Menschen, die guten und bösen Willens waren.
Athena blieb vor mir stehen und verhielt sich wie immer: Sie schloß die Augen, öffnete den Mund, um den Leib Christi zu empfangen.
Doch der Leib Christi blieb in meiner Hand.
Sie öffnete die Augen, begriff nicht, was da geschah. »Wir reden später«, flüsterte ich.
Doch sie regte sich nicht.
»Es kommen noch Leute nach dir in der Schlange. Wir reden später.«
»Was ist los?«, fragte sie so laut, daß alle, die in der Nähe standen, sie hören konnten.
»Wir reden später.«
»Warum geben Sie mir nicht die Kommunion? Sehen Sie denn nicht, daß Sie mich vor allen demütigen?«
»Athena, die Kirche verbietet, daß Geschiedene das Sakrament empfangen. Ihr habt in dieser Woche den Scheidungsantrag unterzeichnet. Wir sprechen später darüber«, sagte ich noch einmal.
Da sie sich nicht bewegte, bedeutete ich der Person hinter ihr vorzutreten. Ich setzte die Kommunion fort, bis das letzte Gemeindemitglied sie empfangen hatte. Und dann, bevor ich zum Altar zurückkehrte, hörte ich diese Stimme.
Es war nicht mehr die Stimme der jungen Frau, die sang, um die Heilige Jungfrau anzubeten, die über ihre Pläne redete, die gerührt war, wenn sie erzählte, was sie über das Leben der Heiligen erfahren hatte, die mir den Tränen nahe von den Schwierigkeiten in ihrer Ehe berichtete. Es war die Stimme eines verwundeten, gedemütigten Wesens, dessen Herz voller Hass war.
»Dieser Ort soll verflucht sein!«, sagte die Stimme. »Verflucht seien die, die jemals die Worte Christi gehört haben und aus seinen Worten eine versteinerte Institution gemacht haben. Denn Christus hat gesagt: >Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.< Ich trage eine Last, bin verletzt, und ihr laßt mich nicht zu ihm.
Heute habe ich erfahren, daß die Kirche diese Worte geändert hat in: Kommt zu mir, die ihr unsere Regeln erfüllt, und laßt die, die mühselig und beladen sind, draußen stehen.«
Ich hörte, wie Frauen in der ersten Reihe sagten, Athena solle schweigen. Aber ich wollte hören, was sie sagte, ich mußte es wissen. Ich drehte mich um, stand mit gesenktem Kopf vor ihr – weiter konnte ich nichts tun.
»Ich schwöre, daß ich nie wieder einen Fuß in eine Kirche setzen werde. Wieder einmal hat mich meine Familie verlassen, und jetzt sind es nicht finanzielle Probleme oder die Unreife von Menschen, die zu früh heiraten. Verflucht seien diejenigen, die einer Mutter und ihrem Kind die Tür verschließen! Ihr seid wie diejenigen, die die Heilige Familie nicht beherbergt haben, genau wie jener, der Christus verleugnet hat, als er einen Freund brauchte.«
Und dann wandte sie sich um und ging weinend mit dem Sohn im Arm hinaus. Ich beendete die Messe, erteilte den Segen und ging direkt in die Sakristei – an jenem Sonntag würde es weder ein Beisammensein mit den Gläubigen noch unnötige Gespräche geben. An jenem Sonntag stand ich vor einem philosophischen Dilemma: Ich hatte mich entschieden, die Institution zu achten und nicht die Worte, auf die sich die Institution gründete.
Ich bin schon alt, Gott kann mich jederzeit holen. Ich bin meiner Kirche treu geblieben und denke, daß sie sich trotz all ihrer Fehler ehrlich bemüht, sich zu ändern. Es wird Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte dauern, aber eines Tages wird, was zählt, die Liebe und der Satz Christi sein: >Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.< Ich habe mein Leben dem Priesteramt gewidmet und bereue meine Entscheidung keine Sekunde lang. Aber in Augenblicken wie an jenem Sonntag habe ich zwar nicht am Glauben, jedoch am Menschen gezweifelt.