Ich weiß, was mit Athena geschehen ist, und ich frage mich: Hat alles damals angefangen, oder war es schon in ihrer Seele? Ich denke an die vielen Athenas und Lukasse auf dieser Welt, die sich scheiden lassen und deshalb das Sakrament der Eucharistie nicht mehr empfangen dürfen. Sie können nur den leidenden, gekreuzigten Christus betrachten und seine Worte hören – die nicht immer mit den Gesetzen des Vatikans übereinstimmen. In einigen wenigen Fällen entfernen sich die Menschen von der Kirche, aber viele kommen weiterhin sonntags zur Messe, weil sie daran gewöhnt sind, auch wenn sie wissen, daß sie die Transsubstantiation, die Umwandlung des Weins und des Brotes in das Blut und den Leib Christi, wohl erleben, aber am Abendmahl nicht teilnehmen dürfen.
Ich denke, Athena wird, als sie die Kirche verließ, Jesus begegnet sein. Und sie wird sich verwirrt in seine Arme geworfen, ihn gebeten haben, ihr zu erklären, warum sie nur wegen eines Papiers, das sie unterzeichnet hatte, wegen eines auf spiritueller Ebene vollkommen unbedeutenden Vorgangs abseits bleiben mußte und wieso nur Kanzleien und Einkommensteuer wichtig waren.
Und Jesus wird, indem er Athena ansah, gesagt haben: »Sieh, meine Tochter, auch ich stehe abseits. Sie lassen mich schon lange nicht mehr dort hinein.«
Pavel Podbielski, 57 Jahre, Besitzer der Wohnung
Athena und ich haben eines gemeinsam: Wir waren beide im Exil lebende Kriegsflüchtlinge, wir sind beide als Kinder nach England gekommen, obwohl meine Flucht aus Polen mehr als 50 Jahre zurückliegt. Wir beide wußten, daß die Traditionen auch im Exil weiterwirken – die Landsleute versammeln sich, ihre Sprache und ihre Religion sind weiterhin lebendig. Die Menschen neigen dazu, einander in einer Umgebung zu schützen, die für sie immer fremd bleiben wird.
Wenn auch die Traditionen weiterleben, so verschwindet doch allmählich der Wunsch wieder zurückzukehren. Er bleibt eine Zeitlang in unseren Herzen als eine trügerische Hoffnung weiterbestehen, die jedoch nie in die Tat umgesetzt wird. Ich werde nie wieder in Tschenstochau leben, so wie Athenas Familie auch nie wieder nach Beirut zurückkehren wird.
Es war eine Art Solidarität, die mich bewog, den dritten Stock meines Hauses in der Basset Road an sie zu vermieten – normalerweise gab ich kinderlosen Mietern den Vorzug. Ich hatte den Fehler schon einmal begangen, und da war Folgendes passiert: Ich beschwerte mich über den Lärm, den sie tagsüber machten, und sie beschwerten sich über den Lärm, den ich nachts machte. Tagsüber war es das Weinen der Kinder, nachts meine Musik, beides heilige Dinge, doch da sie vollkommen unterschiedlichen Welten angehörten, konnten sie einander schwerlich tolerieren.
Athena sagte, meine Musik störe sie nicht und was ihren Sohn betreffe, so sei er den ganzen Tag über bei seiner Großmutter. Die Wohnung habe außerdem den Vorteil, daß sie in der Nähe ihres Arbeitsplatzes liege, einer Bank im Viertel.
Trotz meiner Warnungen und obwohl sie anfangs tapfer widerstanden hatte, klingelte es acht Tage später an meiner Wohnungstür. Es war Athena, sie hatte ihren Sohn auf dem Arm.
»Mein Sohn kann nicht schlafen. Könnten Sie nicht heute die Musik etwas leiser stellen?« Alle im Raum schauten sie an.
»Was ist hier los ?«
Der kleine Junge auf ihrem Arm hörte sofort auf zu weinen, als wäre er genauso überrascht wie seine Mutter, als sie die Gruppe von Menschen sah, die plötzlich aufgehört hatte zu tanzen.
Ich drückte auf den Pausenknopf des Tonbandgerätes, winkte ihr einzutreten und ließ sofort das Band weiterlaufen, um das Ritual nicht zu unterbrechen. Athena setzte sich in eine Ecke des Raumes, wiegte das Baby in ihren Armen, das trotz des Lärmens der Trommeln und Becken bald einschlief. Sie sah der Zeremonie zu und ging erst, als die anderen Gäste auch gingen. Und wie ich mir halb gedacht hatte, klingelte sie am nächsten Morgen, bevor sie zur Arbeit ging.
»Sie brauchen mir nicht zu erklären, was ich gesehen habe: Leute, die mit geschlossenen Augen tanzen. Ich weiß, was das bedeutet, denn ich mache häufig das Gleiche, und das sind dann die einzigen Augenblicke des Friedens und der Ruhe in meinem Leben. Bevor ich Mutter wurde, ging ich mit meinem Mann und meinen Freunden oft in Nachtclubs. Dort sah ich auch Leute mit geschlossenen Augen auf der Tanzfläche tanzen, einige taten es nur, weil sie die anderen beeindrucken wollten, andere wirkten so, als würden sie von einer größeren, mächtigeren Kraft bewegt. Und solange ich denken kann, habe ich im Tanz etwas gefunden, was mich mit etwas in Verbindung bringt, das stärker ist als ich.
Aber ich hätte gern gewußt, was für eine Musik das gestern Abend war.«
»Was machen Sie am kommenden Sonntag ?«
»Nichts Besonderes. Mit Viorel im Regent’s Park spazieren gehen, etwas frische Luft schnappen. Bis ich Zeit für mich habe, wird es noch etwas dauern – in dieser Phase meines Lebens folge ich dem Zeitplan meines Sohnes.«
»Dann werde ich Sie eben begleiten.«
In den zwei Tagen vor unserem Ausflug nahm Athena am Ritual teil. Ihr Sohn schlief nach ein paar Minuten ein, und sie schaute nur wortlos auf die Bewegung ringsum. Obwohl sie reglos auf dem Sofa saß, war ich sicher, daß ihre Seele tanzte.
Am Sonntagnachmittag, während unseres Spaziergangs im Park, bat ich sie, auf alles zu achten, was sie sah und hörte: die Blätter, die im Wind schaukelten, die Wellen auf dem Teich, die singenden Vögel, die bellenden Hunde, das Geschrei der Kinder, die hin und her liefen, als würden sie einer merkwürdigen, für die Erwachsenen unverständlichen Logik folgen.
»Alles bewegt sich. Und alles bewegt sich in einem Rhythmus. Und alles, was sich in einem Rhythmus bewegt, ruft einen Klang hervor. Das geschieht in diesem Augenblick hier und überall sonst auf der Welt. Unsere Vorfahren haben das auch bemerkt, schon damals, als sie in Höhlen lebten, um sich vor den Unbilden der Witterung zu schützen.
Die Dinge bewegen sich und machen Geräusche.
Für die ersten Menschen war diese Erkenntnis anfangs mit Staunen, später mit Verehrung verbunden: Sie begriffen, daß ein höheres Wesen auf diese Weise mit ihnen kommunizierte. Sie ahmten die Geräusche und Bewegungen, die sie umgaben, nach in der Hoffnung, auch mit diesem Wesen zu kommunizieren: Der Tanz und die Musik waren geboren. Vor ein paar Tagen haben Sie mir gesagt, daß Sie, wenn Sie tanzen, mit etwas kommunizieren, das mächtiger ist als Sie.«
»Wenn ich tanze, bin ich frei. Besser gesagt, ich bin dann ein freier Geist, der durch das Universum reisen, die Gegenwart sehen, die Zukunft erahnen und sich in reine Energie verwandeln kann. Und das macht mir eine ungeheure Freude, eine Freude, die weit über alles hinausgeht, was ich schon erlebt habe und in meinem Leben noch erfahren werde.
Es hat eine Zeit in meinem Leben gegeben, da wollte ich eine Heilige werden, die Gott durch die Musik und die Bewegungen ihres Körpers lobt. Aber dieser Weg ist mir endgültig verwehrt.«
»Welcher Weg ist Ihnen verwehrt?«
Sie setzte das Kind in seinem Kinderwagen zurecht. Ich sah, daß sie diese Frage nicht beantworten wollte, ließ aber nicht locker: Wenn Münder sich verschließen, dann weil etwas Wichtiges gesagt werden sollte.
Ohne eine Gefühlsregung und als müßte sie die Dinge, die ihr das Leben auferlegte, immer schweigend ertragen, erzählte sie mir, was in der Kirche passiert war, als der Priester – wahrscheinlich ihr einziger Freund – ihr die Kommunion verweigert hatte. Und vom Fluch, den sie damals ausgesprochen hatte. Sie hatte die katholische Kirche für immer verlassen.
»Ein Heiliger ist derjenige, der sein Leben würdig lebt«, erklärte ich. »Wir müssen einfach nur begreifen, daß wir aus einem bestimmten Grund hier sind, und sich diesem Grund verschreiben. Dann können wir über unser großes oder kleines Leid lachen und ohne Angst voranschreiten, im Bewußtsein, daß jeder Schritt einen Sinn hat. Wir können uns vom Licht führen lassen, das aus dem Vertex kommt.«