»Ich hoffe, ich habe da nichts Falsches gemacht, die Bänder waren doch nicht etwa geheim?«
Selbstverständlich nicht, ganz im Gegenteil. Athena half mir, eine fast vergessene Tradition zu bewahren. In den Notizen meines Großvaters hieß es, eine der Frauen habe ihm erzählt, daß ein Mönch, der dieses Gebiet besucht hatte, behauptet hätte, wir trügen alle unsere Vorfahren und alle zukünftigen Generationen in uns. Wenn wir uns selber befreien, täten wir das auch mit der ganzen Menschheit.
»Dann müßten die Frauen und die Männer jenes kleinen Orts in Sibirien jetzt auch hier sein und sich freuen. Ihre Arbeit wird dank Ihres Großvaters in diesem Teil der Welt wiedergeboren. Aber eines hätte ich gern noch gewußt: Warum haben Sie beschlossen zu tanzen, nachdem Sie den Text gelesen hatten? Wenn Sie etwas über Fußball gelesen hätten, hätten Sie dann auch beschlossen, Fußballspieler zu werden?«
Die Frage hatte mir noch nie jemand gestellt.
»Zum Tanzen bin ich gekommen, weil ich damals krank war. Ich hatte eine seltene Art von Arthritis, und die Ärzte sagten, ich müsse mich darauf gefaßt machen, mit fünfunddreißig Jahren im Rollstuhl zu sitzen. Angesichts der kurzen Zeit, die mir noch blieb, beschloß ich, alles zu tun, was ich später nicht mehr würde tun können. Mein Großvater hatte geschrieben, daß die Bewohner von Diedov an die heilenden Kräfte der Trance glaubten.«
»Sie hatten offensichtlich recht.«
Ich sagte nichts weiter, aber ich war mir nicht so sicher. Vielleicht hatten sich die Ärzte ja geirrt. Vielleicht hatte die Tatsache, daß ich mir als ein mit meiner Familie emigrierter Jude nicht leisten konnte, krank zu werden, eine so starke Wirkung auf mein Unterbewußtsein gehabt, daß eine natürliche Reaktion des Organismus hervorgerufen wurde. Oder vielleicht war es wirklich ein Wunder gewesen, was allerdings meinem katholischen Glauben vollkommen widersprach: Tänze heilen nicht.
Ich erinnere mich daran, wie ich mir in meiner Jugend (weil ich die dazu passende Musik nicht hatte) eine schwarze Kapuze über meinen Kopf gezogen und mir vorgestellt habe, daß die Wirklichkeit um mich herum aufhörte zu existieren. Mein Geist reiste nach Diedov zu jenen Männern und Frauen, zu meinem Großvater und der von ihm so geliebten Schauspielerin. In der Stille meines Zimmers bat ich sie, mich das Tanzen zu lehren, über meine Grenzen hinauszugehen, weil ich in Kürze schon für immer gelähmt sein würde. Je mehr mein Körper sich bewegte, desto mehr Licht zeigte sich in meinem Herzen, desto mehr lernte ich – vielleicht ganz allein aus mir heraus, vielleicht von den Geistern der Vergangenheit. Ich konnte mir sogar die Musik vorstellen, die sie bei ihren Ritualen hörten, und als ein Freund von mir viele Jahre später nach Sibirien reiste, bat ich ihn, Schallplatten mitzubringen. Auf einer war zu meiner Überraschung eine Musik, die ganz meiner Vorstellung vom Tanz von Diedov entsprach.
Athena sagte ich besser nichts davon – sie wirkte auf mich wie jemand, der leicht zu beeinflussen war, und zudem schien sie mir unausgeglichen zu sein.
»Vielleicht tun Sie ja genau das Richtige«, war mein einziger Kommentar.
Wir haben noch einmal, kurz vor ihrer Reise in den Orient, miteinander gesprochen. Sie wirkte zufrieden, als hätte sie gefunden, was sie sich wünschte: die Liebe.
»Meine Kollegen in der Bank haben eine Gruppe gebildet und nennen sich selber >Pilger des Scheitelpunktes<. Das verdanken sie Ihrem Großvater.«
»Das verdanken sie Ihnen, die Sie das Gefühl hatten, dies mit anderen teilen zu müssen. Ich weiß, daß Sie kurz vor Ihrer Abreise in den Orient stehen. Das ist eine gute Gelegenheit, Ihnen dafür zu danken, daß Sie das, was ich jahrelang getan habe, anderen zugänglich gemacht, das Licht an andere weitergegeben haben.«
»Wissen Sie, was ich herausgefunden habe? Die Ekstase befähigt einen, aus sich selber herauszutreten. Der Tanz ist ein Weg, um in andere Sphären aufzusteigen. Neue Dimensionen zu entdecken und dennoch zugleich in Kontakt mit seinem Körper zu stehen. Im Tanz können die spirituelle und die reale Welt, ohne in Konflikt miteinander zu geraten, gleichzeitig existieren. Ich glaube, daß die Tänzer des klassischen Balletts auf Zehenspitzen tanzen, weil sie so zugleich den Boden berühren und den Himmel erreichen.«
Das waren, wenn ich mich recht erinnere, ihre letzten Worte. Wenn wir uns tanzend voller Freude hingeben, verliert das Gehirn die Kontrolle über den Körper, und das Herz übernimmt. Erst in diesem Augenblick erscheint der Scheitelpunkt.
Selbstverständlich nur, wenn wir daran glauben.
Peter Sherney, 47 Jahre, Direktor einer Bankfiliale in Holland Park, London
Ich habe Athena eingestellt, weil ihre Familie zu unseren wichtigsten Kunden zählte – letztlich dreht sich in der Welt ja alles um gemeinsame Interessen. Da sie zu aufgedreht war, habe ich ihr einen Verwaltungsjob gegeben in der zarten Hoffnung, sie würde am Ende kündigen. Dann hätte ich ihrem Vater sagen können, ich hätte versucht, ihr zu helfen, allerdings erfolglos.
Meine Erfahrungen als Direktor haben mich gelehrt, die Gemütslage von Menschen selbst dann zu erkennen, wenn sie nichts sagen. In einem Managerkurs hatte man uns beigebracht: Wenn Sie jemanden loswerden wollen, machen Sie alles, damit diese Person es Ihnen gegenüber irgendwann an Respekt fehlen läßt. Damit haben Sie einen Grund, ihr zu kündigen.
Bei Athena habe ich alles versucht, um mein Ziel zu erreichen. Da sie das Geld, das sie verdiente, nicht zum Leben brauchte, würde sie schließlich zu dem Ergebnis gelangen, daß sich der ganze Streß nicht lohnte: früh aufstehen, den Sohn bei der Mutter abgeben, den ganzen Tag immer die gleiche Arbeit machen, den Sohn wieder abholen, in den Supermarkt gehen, sich um das Kind kümmern, es zu Bett bringen. Schließlich gab es viel interessantere Möglichkeiten, seine Tage zu verbringen. Athena wurde immer gereizter, und ich war stolz auf meine Strategie: ich würde es schaffen. Sie fing an, über ihre Wohnung zu klagen und darüber, daß der Wohnungsbesitzer nachts laut Musik höre und sie nicht schlafen könne.
Dann änderte sich aber unvermittelt etwas. Anfangs nur bei Athena. Und später in der ganzen Filiale.
Wieso mir das auffiel? Eine Gruppe von Menschen, die zusammen arbeitet, ist so etwas wie ein Orchester. Ein guter Geschäftsführer ist der Dirigent, der weiß, welches Instrument verstimmt ist, welches mit besonders viel Leidenschaft gespielt wird und welches einfach nur der Gruppe folgt. Athena schien ihr Instrument ohne die geringste Begeisterung zu spielen, immer leicht geistesabwesend. Sie teilte die Freuden und die traurigen Momente in ihrem Leben nicht mit ihren Kollegen. Sie gab nur zu verstehen, daß sie ihre gesamte Freizeit ihrem Sohn widme. Bis sie plötzlich ausgeruhter und kommunikativer wirkte und jedem, der es hören wollte, erzählte, daß sie eine Art Verjüngungskur entdeckt habe.
Das ist natürlich ein magisches Wort: Verjüngung. Wenn es jemand sagt, der gerade einundzwanzig Jahre alt ist, klingt das zwar etwas merkwürdig, doch Athenas Kollegen glaubten ihr und wollten schließlich von ihr das Geheimnis erfahren.
Athena arbeitete effizienter, obwohl sich ihre Aufgaben nicht geändert hatten. Ihre Arbeitskollegen, die sich anfangs auf ein guten Tag und guten Abend beschränkt hatten, luden sie nun ein, mit ihnen zu Mittag zu essen. Wenn sie zurückkamen, wirkten sie zufrieden, und der Umsatz der Abteilung stieg merklich an.
Ich weiß, daß Verliebte eine positive Ausstrahlung haben, die sie auf ihre Umwelt übertragen, und dachte mir sofort, daß Athena jemanden gefunden hätte, der ihr sehr wichtig war.