Ich fragte sie danach, und sie gab es zu. Auf meine Nachfrage, ob es sich bei ihrer neuen Flamme etwa um einen Kunden handele, meinte sie, dem sei zwar so, aber es sei das erste Mal, daß sie eine solche Einladung angenommen habe. Diesmal habe sie einfach nicht ablehnen können. Normalerweise wäre das der Grund für eine fristlose Kündigung gewesen – die Regeln der Bank waren unmißverständlich, privater Kontakt zu Kunden war ausdrücklich verboten. Athenas Veränderung wirkte sich jedoch auch auf den Kontakt mit ihren Kollegen aus: Einige von ihnen trafen sich jetzt nach der Arbeit mit ihr, und, soweit ich wußte, waren zwei oder drei sogar bei ihr zu Hause gewesen.
Ich stand vor einer schwierigen Situation. Die junge Praktikantin, die über keinerlei Berufserfahrung verfügte, die zuerst schüchtern und manchmal aggressiv gewesen war, hatte sich unter meinen Angestellten zu einer Art natürlichen Führungsperson gemausert. Würde ich ihr kündigen, dächten die Kollegen, es sei aus Rivalität geschehen – und ich würde ihre Achtung verlieren. Würde ich sie behalten, würde ich Gefahr laufen, in ein paar Monaten die Kontrolle über die Gruppe zu verlieren.
Dennoch wollte ich noch etwas abwarten. Die Energie in der Filiale wurde nämlich immer positiver – Energie, wie ich dieses Wort hasse, denn in Wahrheit sagt es überhaupt nichts Konkretes aus, es sei denn, wir sprechen von Elektrizität.
Die Kunden schienen zufriedener zu sein und empfahlen uns weiter. Die Angestellten waren guter Dinge, obwohl sie doppelt so viel zu tun hatten. Dennoch mußte ich nicht mehr Personal einstellen, da alle ihre Arbeit schafften.
Eines Tages erhielt ich einen Brief von meinen Vorgesetzten. Der Vorstand wollte, daß ich nach Barcelona zu einem Meeting der Firmengruppe kam, um meine Organisationsmethoden vorzustellen. Der Bankdirektion war aufgefallen, daß es mir gelungen war, bei gleichen Kosten den Gewinn zu erhöhen, und welche Methoden man dazu anwendet, wollen alle Manager der Welt gern wissen.
Welche Methoden?
Mein einziges Verdienst war, zu merken, wann die Veränderung eingesetzt hatte, und ich bestellte Athena in mein Büro. Ich sagte ihr, mir sei aufgefallen, daß es in ihrer
Abteilung eine erfreuliche Umsatzsteigerung gegeben habe.
Aber ich kam nicht gleich zur entscheidenden Frage.
»Was macht eigentlich Ihr Privatleben? Man sagt immer, daß derjenige, der Liebe empfängt, am Ende noch mehr Liebe gibt. Wie geht es Ihrem Freund? Was macht er eigentlich?«
»Er arbeitet bei Scotland Yard.«
Ich fragte nicht weiter nach, mußte es aber irgendwie schaffen, zur Sache zu kommen.
»Ich habe eine große Veränderung bei Ihnen festgestellt, und …«
»Sie meinen in der Filiale?«
Was sollte ich darauf antworten? Ich durfte ihr einerseits nicht die Gesprächsführung überlassen, andererseits mußte ich ihr das Gefühl geben, daß sie offen reden konnte, damit ich an die Antworten kam, die ich brauchte.
»Ja, ich habe eine große Veränderung bemerkt. Und ich möchte mit Ihnen jetzt über eine Beförderung sprechen.«
»Das ist sehr freundlich, aber ich würde gern in ein anderes Land gehen. Ich möchte London eine Zeitlang verlassen, meinen Horizont erweitern.«
In ein anderes Land gehen? Jetzt, wo alles so prächtig lief, wollte sie weg? Das war nun doch nicht die Lösung, die ich brauchte und mir wünschte.
»Ich kann für die Bank auch im Ausland nützlich sein«, fuhr sie fort.
Vor nicht allzu langer Zeit hätte mich ihr Wunsch wegzugehen gefreut. Ich wäre sie losgeworden, ohne mich mit einer komplizierten Kündigung herumschlagen zu müssen. Jetzt, wo meine Vorgesetzten unsere Gewinnsteigerung bemerkt hatten, sollte Athena erst mir helfen, ehe ich ihr half. Auch auf die Gefahr hin, daß Athena meine Führungsposition bedrohen würde, mußte ich sie erst einmal hierbehalten. In diesem Augenblick wurde mir mal wieder klar, warum ein Großteil meiner Kollegen sich selten für Verbesserungen einsetzt: Gelingen sie, wird erwartet, daß ständig weitere Verbesserungen erfolgen – und diese Spirale führt unweigerlich zum Herzinfarkt.
Meinen nächsten Schritt überlegte ich mir sehr sorgfältig: Wenn wir von jemandem ein Geheimnis erfahren wollen, empfiehlt es sich, auf ihn einzugehen.
»Ich werde Ihre Bitte an meine Vorgesetzten weiterleiten. Im Übrigen werde ich den Vorstand demnächst in Barcelona treffen, und genau aus diesem Grund habe ich Sie kommen lassen. Gehe ich recht in der Annahme, daß unsere Leistungen von dem Augenblick an besser geworden sind, in dem die Kollegen, sagen wir, ein besseres Verhältnis zu Ihnen entwickelt haben?«
»Eher ein besseres Verhältnis zu sich selbst.«
»Richtig. Aber dafür haben Sie gesorgt – oder irre ich mich ?«
»Sie wissen genau, daß Sie sich nicht irren.«
»Haben Sie irgendein Buch über Personalführung gelesen, das ich nicht kenne?«
»Solche Bücher lese ich nicht. Aber ich möchte Sie noch einmal bitten, mein Anliegen zu überdenken.«
Ich dachte an ihren Freund bei Scotland Yard. Steckte er vielleicht dahinter und brachte ihr etwas bei, mit dem phantastische Ergebnisse zu erzielen waren?
»Ich bin gerne bereit, Ihnen alles zu sagen, was Sie wissen möchten, selbst wenn Sie Ihr Versprechen nicht halten sollten. Aber ich weiß nicht, ob Ihnen das viel bringt, wenn Sie es nicht auch umsetzen.«
»Meinen Sie die berühmte >Verjüngungstechnik<?«
»Genau.«
»Reicht es nicht, nur die Theorie zu kennen?«
»Sagen wir maclass="underline" nur bedingt. Sie ist auf ein paar Blättern Papier zu dem Menschen gelangt, der sie mir beigebracht hat. «
Ich war erleichtert, daß ich offenbar problemlos an die Informationen kam, die ich beruflich brauchte. Aber ich hatte zugegebenermaßen auch ein persönliches Interesse an dieser Geschichte, denn auch ich träumte davon, mich wieder jünger zu fühlen, voller Energie. Ich versprach Athena, alles für sie zu tun, was in meiner Macht stehe, und sie begann eine lange esoterische Geschichte von einem Tanz auf der Suche nach einem Scheitelpunkt (oder einer Achse, ich erinnere mich nicht mehr so genau daran). Ich versuchte, während unseres Gespräches ihre verrückten Gedanken zu hinterfragen. Eine Stunde war dafür nicht ausreichend, deshalb bat ich sie, am nächsten Tag noch einmal zu kommen. Dann würden wir gemeinsam einen Bericht für den Vorstand formulieren. Irgendwann sagte Athena lächelnd zu mir:
»Nehmen Sie in den Bericht ruhig alles auf, was in unserem Gespräch gesagt wurde. Ich glaube, die Vorstandsmitglieder einer Bank sind auch Menschen aus Fleisch und Blut wie wir und werden an unkonventionellen Ideen großes Interesse haben.«
Da irrte sich Athena gewaltig: In England ist Tradition immer wichtiger als Innovation. Ich konnte es ja ruhig riskieren, weil mein Arbeitsplatz durch den Bericht ja nicht gefährdet war. Obwohl mir das Ganze vollkommen absurd vorkam, faßte ich es so zusammen, daß alle es verstehen konnten. Das war’s.
Bevor ich in Barcelona meinen Bericht verlas, wiederholte ich innerlich den ganzen Vormittag lang: »Mein« Verfahren funktioniert, das allein interessiert. Ich hatte zudem noch ein paar Handbücher gelesen und dabei herausgefunden, daß wenn man eine erfolgreiche neue Idee vorstellen will, man seinem Vortrag eine Struktur geben muß, die die Zuhörer provoziert. Daher bezog ich mich in meinem ersten Satz, den ich zu den in einem Luxushotel versammelten Managern sagte, auf den Apostel Paulus: Gott hat die wichtigsten Dinge vor den Weisen verborgen gehalten, weil sie nicht begreifen können, was einfach ist, und beschlossen, sie den im Herzen Einfachen zu offenbaren.
Als ich das sagte, breitete sich unter den Zuhörern, die zwei Tage lang Graphiken und Statistiken analysiert hatten, tiefes Schweigen aus. Möglicherweise hatte ich gerade meinen Job aufs Spiel gesetzt, aber ich machte trotzdem weiter. Erstens, weil ich mich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hatte und genau wußte, was ich da sagte, und es verdiente, daß man mir zuhörte. Zweitens, weil ich, obwohl ich verständlicherweise nicht über Athenas ungeheuren Einfluß sprechen, aber auch nicht lügen wollte: