»Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß heutzutage zur Motivation der Angestellten mehr erforderlich ist als ein gutes Training in unseren hochqualifizierten Trainingscentern. In uns allen liegen unbekannte Kräfte verborgen, die, wenn sie an die Oberfläche kommen, Wunder wirken können.
Wir alle arbeiten aus einfachen Gründen: um die Kinder zu ernähren, Geld für den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, dem Leben einen Sinn zu geben, ein kleines Stückchen Macht zu bekommen. Auf diesem Weg gibt es immer wieder ereignislose Abschnitte, und das Geheimnis besteht darin, diese Abschnitte zu einer Begegnung mit sich selber oder etwas Höherem zu nutzen.
Zum Beispiel steckt nicht immer ein praktischer Grund hinter unserer Suche nach dem Schönen; dennoch suchen wir es, als wäre es das Wichtigste auf der Welt. Die Vögel singen, doch das hilft ihnen nicht, Nahrung zu finden, Raubtieren zu entgehen oder Parasiten fernzuhalten. Darwin zufolge singen die Vögel, weil sie auf diese Weise einen Partner anlocken, um das Fortbestehen der Spezies zu sichern.«
Ein Manager aus Genf unterbrach mich und verlangte eine sachlichere Darstellung. Doch der Generaldirektor ermutigte mich fortzufahren, worüber ich mich freute.
»Darwin zufolge, der ein Buch geschrieben hat, das die Sicht des Menschen auf sich selbst grundlegend verändert hat, wiederholen sich die Rituale der Brautwerbung der Höhlenmenschen, die zum Fortbestehen und zur Weiterentwicklung der menschlichen Spezies wichtig waren, heute in den Versuchen von Menschen, Emotionen zu wecken.
Welcher Unterschied besteht nun zwischen der Entwicklung des Menschen und der Entwicklung einer Bankfiliale? Keiner. Beide gehorchen denselben Gesetzen – nur die Fähigsten, die am besten an ihre Umwelt angepaßt waren, überleben und entwickeln sich weiter.«
Nun mußte ich erwähnen, daß eine meiner Angestellten, Sherine Khalil, mich auf diesen Gedanken gebracht hatte.
»Sherine, die sich gern Athena nennen läßt, hat etwas ganz Neues in unsere Filiale gebracht: Leidenschaft. Genau das, Leidenschaft, etwas, das wir nie in Betracht ziehen, wenn wir uns mit Darlehen oder Ausgabenplanungen befassen. Meine Angestellten haben Musik als Anreiz benutzt, um die Kunden besser zu bedienen.«
Ein anderer Manager unterbrach mich mit dem Hinweis, dies sei ein alter Hut: In den Supermärkten werde das Gleiche gemacht, indem man die Kunden durch Musikbeschallung zum Kaufen anregt.
»Ich will damit nicht sagen, daß wir Musik am Arbeitsplatz eingesetzt haben. Die Angestellten haben sich mit der Zeit anders verhalten, weil Sherine, oder Athena, wenn Sie wollen, ihnen beigebracht hat zu tanzen, bevor sie sich an ihre tägliche Arbeit machten. Ich weiß nicht genau, was das in den Menschen auslöst. Als Manager interessieren mich nur die Ergebnisse. Aber ich habe bemerkt, daß alle sich durch diese Art von Tanz mehr mit dem verbunden fühlen, was sie machen.
Schon sehr früh lernen wir, gemäß der Maxime >Zeit ist Geld< zu leben. Wir wissen genau, was Geld ist, aber was bedeutet Zeit? Der Tag hat vierundzwanzig Stunden und unzählige Augenblicke. Wir müssen uns jedes Moments bewußt sein, und während wir etwas tun, gleichzeitig daran denken, was es mit unserem Leben zu tun hat. Damit riskieren wir, daß das, was wir tun – wie zum Beispiel Abwaschen oder das Zählen von Wechseln oder die Auflistung von Krediten –, zwar länger dauert, aber das macht nichts. Warum nutzen wir diese Momente nicht dazu, um gleichzeitig an angenehme Dinge zu denken, um uns über die Tatsache zu freuen, daß wir leben?«
Der Generaldirektor schaute mich verblüfft an. Ich war mir sicher, er wollte, daß ich damit fortfuhr zu erklären, was ich gelernt hatte, doch einige der Anwesenden wurden unruhig.
»Ich weiß genau, was Sie damit sagen wollen«, meinte er. »Ich weiß, daß Ihre Angestellten zumindest an einem Augenblick am Tag mit sich selbst in Verbindung treten. Ich möchte Sie dazu beglückwünschen, daß Sie sich nicht scheuen, auf unorthodoxe Maßnahmen zurückzugreifen, zumal sie so hervorragende Ergebnisse bringen.
Aber wir sind auf einer Konferenz, und da Sie gerade über Zeit gesprochen haben, möchte ich nur kurz darauf hinweisen, daß Ihnen noch fünf Minuten bleiben, um Ihren Vortrag zu beenden. Wäre es möglich, eine Liste der wichtigsten Punkte aufzustellen, damit wir diese Ideen auch in anderen Filialen einbringen können?«
Er hatte recht. Auch wenn die Ideen gut waren, würde ich einen schlechten Eindruck hinterlassen, wenn ich zu lange sprechen würde. Daher faßte ich nur noch kurz zusammen, was Athena und ich geschrieben hatten.
»Ich habe mit Sherine Khalil ein paar Punkte herausgearbeitet, die auf persönlicher Beobachtung beruhen. Hier die wichtigsten:
1. Wir alle haben eine unbekannte Fähigkeit, die auch für immer unbekannt bleiben wird. Dennoch kann sie unsere Verbündete sein. Da man diese Fähigkeit nicht messen und ihr auch keinen wirtschaftlichen Wert zuordnen kann, wird sie nie in Betracht gezogen. Doch wir reden hier von Menschen, und ich bin mir sicher, daß Sie wissen, was ich meine. Zumindest theoretisch.
2. In meiner Filiale wurde diese Fähigkeit durch einen Tanz aktiviert, der auf einem Rhythmus beruht, der, wenn ich mich richtig erinnere, aus den Wüsten Asiens stammt. Doch der Ort, an dem er entstand, ist nebensächlich. Wichtig ist, daß die Menschen in diesem Tanz mit ihrem Körper ausdrücken können, was die Seele sagen will. Ich weiß, daß das Wort >Seele< hier falsch verstanden werden kann. Ersetzen wir es durch >Intuition<. Und wenn Ihnen dieses Wort ebenfalls nicht gefällt, lassen Sie uns statt dessen von >originären Gefühlen< sprechen. Das hat eine wissenschaftlichere Konnotation, obwohl es weniger aussagt als die beiden anderen Wörter.
3. Bevor sie mit der Arbeit beginnen, habe ich meine Angestellten dazu motiviert, anstatt Gymnastik oder Aerobic zu betreiben, mindestens eine Stunde lang zu tanzen. Das stimuliert Körper und Geist, sie beginnen den Tag voller Energie und nutzen diese im Laufe des Tages kreativ für ihre Aufgaben in der Filiale.
4. Kunden und Angestellte leben in ein und derselben Welt: Die Realität ist nichts weiter als elektrische Stimuli in unserem Gehirn. Das, was wir >sehen< nennen, ist die Verarbeitung von Energieimpulsen in einem Teil unseres Gehirns. Da Realität das Ergebnis dieser Verarbeitung ist, können wir die Realität verändern, indem wir unsere einzelnen Realitäten aufeinander abstimmen. Wie das geht, verstehe ich nicht genau, aber Fröhlichkeit ist ebenso ansteckend wie Begeisterung und Liebe. Oder auch die Traurigkeit, die Depression, der Hass – Dinge, die intuitiv von den Kunden oder von Kollegen bemerkt werden. Um bessere Leistungen zu erzielen, muß man Mechanismen schaffen, die diese positiven Stimuli weitertragen.«
»Sehr esoterisch«, meinte eine Frau, die die Aktienabteilung einer Filiale in Kanada leitete.
Ich hatte offenbar den Faden etwas verloren und niemanden so recht überzeugen können. Ich tat so, als hätte ich ihre Bemerkung nicht gehört, und setzte meine ganze Kreativität ein, um einen Abschluß für meinen Vortrag zu finden, der sich auf handfeste Dinge bezog.
»Die Bank sollte einen bestimmten Betrag für eine Untersuchung darüber zur Verfügung stellen, wie diese Übertragung der positiven Stimuli vonstatten geht, und wir könnten aufgrund des Ergebnisses der Untersuchung unseren Gewinn steigern.«
Mit diesem Abschluß war ich ziemlich zufrieden, und ich zog es vor, die zwei Minuten, die mir noch blieben, nicht zu nutzen. Als am Ende dieses ermüdenden Tages die Konferenz ausklang, lud mich der Generaldirektor vor allen Anwesenden ein, mit ihm zu Abend zu essen, als wolle er damit zeigen, daß er mir in allem, was ich gesagt hatte, zustimmte. Eine solche Gelegenheit hatte sich mir noch nie geboten, und ich wollte sie für mich nutzen. Ich fing an, über Leistung, Planung, Schwierigkeiten an der Wertpapierbörse und neue Märkte zu sprechen. Aber er unterbrach mich: Er war mehr daran interessiert, alles zu erfahren, was Athena mich gelehrt hatte.