Am Ende brachte er zu meiner Überraschung das Gespräch auf persönliche Themen.
»Ich weiß, was Sie gemeint haben, als Sie in Ihrem Vortrag von Zeit gesprochen haben. Als ich zwischen Weihnachten und Neujahr Urlaub machte, setzte ich mich in den Garten, um entspannt Zeitung zu lesen. Ich holte sie aus dem Briefkasten, aber es stand nichts Wichtiges darin. Nur die Dinge, die uns nach Meinung der Journalisten interessieren und zu denen wir uns eine Meinung bilden sollten.
Ich überlegte, ob ich jemanden aus meinem Team anrufen sollte, aber das war unsinnig, denn alle waren bei ihren Familien. Ich aß mit meiner Frau, meinen Kindern und Enkelkindern zu Mittag und hielt ein Nickerchen. Nach dem Aufwachen machte ich mir ein paar Notizen und sah dann plötzlich, daß es erst drei Uhr nachmittags war. Vor mir lagen noch drei arbeitsfreie Tage, und sosehr ich es auch liebte, mit meiner Familie zusammen zu sein, so fühlte ich mich doch nutzlos.
Am nächsten Tag nutzte ich meine freie Zeit, um meinen Magen untersuchen zu lassen, der zum Glück in Ordnung war. Ich ging auch zum Zahnarzt, der ebenfalls sagte, es gebe kein Problem. Ich aß wieder mit meiner Frau, meinen Kindern und Enkelkindern zu Mittag, schlief wieder, wachte wieder kurz vor drei Uhr nachmittags auf, und mir wurde klar, daß ich nichts zu tun hatte.
Ich erschrak: Ich mußte doch etwas tun. Es ist einfach, Arbeiten zu erfinden – wir haben immer Projekte, die entwickelt, Glühbirnen, die ausgewechselt werden müssen, welkes Laub, das geharkt werden muß. Bücher müssen weggestellt, Computerordner aufgeräumt werden und so weiter. Aber wie soll man mit der totalen Leere umgehen?
Da fiel mir etwas sehr Wichtiges ein: Ich mußte zur Post gehen, die einen Kilometer von meinem Landhaus entfernt war, und eine Glückwunschkarte einwerfen, die auf meinem Schreibtisch liegengeblieben war.
Zu meiner eigenen Überraschung dachte ich aber: Warum muß ich diese Karte heute abschicken? Kann ich nicht einfach hier sitzen bleiben und nichts tun?
Mir ging so einiges durch den Kopf: Ich dachte an Freunde, die sich um Dinge Sorgen machen, die noch nicht passiert sind, Bekannte, die jede Minute ihres Lebens mit Aufgaben zu füllen wissen, die mir unsinnig vorkommen, an sinnlose Gespräche, lange Telefonate, in denen nichts Wesentliches gesagt wurde. Ich sah meine Direktoren, die Arbeiten erfinden, um ihre Stellung zu rechtfertigen, oder Angestellte, denen heute nichts Wichtiges zu tun gegeben worden ist und die nun fürchten, daß sie möglicherweise nicht mehr gebraucht werden. Ich dachte an meine Frau, die sich quält, weil unser ältester Sohn sich hat scheiden lassen; und ich dachte an unseren anderen Sohn, der sich quält, weil mein Enkel in der Schule schlechte Noten hat; ich dachte an meinen Enkel, der sich quält, weil er seine Eltern traurig macht – obwohl wir alle wissen, daß Schulnoten so wichtig nun auch wieder nicht sind.
Ich habe einen langen, schwierigen Kampf mit mir ausgefochten, um nicht von meinem Platz aufzustehen. Ganz allmählich wich die Unruhe der Kontemplation, und ich begann, meine Seele zu spüren – oder meine Intuition oder meine originären Gefühle, ganz wie Sie wollen.
In meinem Fall war es nicht der Tanz, sondern das vollkommene Fehlen von Geräuschen und Bewegung, die Stille, die mich mit mir selber in Kontakt treten ließ. Und, ob Sie es glauben oder nicht, ich habe dabei so viel über die Probleme gelernt, die mich bedrücken – obwohl diese Probleme, während ich dort saß, ganz und gar abwesend waren. Ich habe zwar Gott nicht gesehen, aber ich konnte die Entscheidungen, die ich treffen mußte, sehr viel deutlicher sehen.«
Bevor der Generaldirektor die Rechnung beglich, schlug er mir vor, Sherine Khalil nach Dubai zu schicken, wo die Bank eine neue Filiale eröffnen würde – ein ziemlich riskantes Vorhaben. Ohne daß er es wußte, half mir der Generaldirektor, das Versprechen zu halten, das ich Athena gegeben hatte.
Ich hatte genug von ihr gelernt, jetzt mußte ich in meiner Filiale nur noch die Kontinuität wahren.
Als ich zurück in London war, habe ich Athena umgehend von dem Vorschlag des Generaldirektors berichtet. Sie sagte sofort zu. Sie sagte, sie spräche fließend Arabisch (was ich aufgrund der Herkunft ihres Vaters angenommen hatte), obwohl dies, weil wir in Dubai nicht nur mit Einheimischen Geschäfte machen, sondern in erster Linie mit internationalen Kunden, nicht von vorrangiger Wichtigkeit war.
Ich dankte Athena für ihre Hilfe. Was meinen Vortrag betraf, zeigte sie keinerlei Neugier – sie fragte nur, wann sie die Koffer packen solle.
Bis heute weiß ich nicht, ob diese Geschichte mit dem Freund, der bei Scotland Yard arbeitet, eine Erfindung war. Ich denke schon, denn würde sie stimmen, wäre der Mörder von Athena längst gefaßt – denn ich glaube nichts von dem, was die Zeitungen über das Verbrechen berichtet haben. Ich verstehe zwar viel vom Finanzwesen und bin sogar in der Lage zu verstehen, daß Tanz Bankangestellten hilft, besser zu arbeiten, aber ich werde nie begreifen, wieso die beste Polizei der Welt es nicht schafft, die vielen frei herumlaufenden Mörder zu fassen.
Aber inzwischen ist das alles egal.
Nabil Alaihi, Alter unbekannt, Beduine
Ich bin sehr froh zu hören, daß ein Foto von mir in Athenas Wohnung einen Ehrenplatz hatte, aber ich glaube nicht, daß das, was ich ihr beigebracht habe, irgendwie nützlich war. Sie kam hierher, mitten in die Wüste, ein etwa dreijähriges Kind an der Hand. Sie machte ihre Tasche auf, holte einen Kassettenrekorder heraus und setzte sich vor mein Zelt. Ich weiß, daß Menschen aus der Stadt den Touristen, die die lokale Küche ausprobieren wollten, meinen Namen nannten, und sagte ihr gleich, es sei noch zu früh fürs Abendessen.
»Ich komme aus einem anderen Grund«, sagte die Frau. »Ich habe über Ihren Neffen Hamid, der Kunde in der Bank ist, in der ich arbeite, erfahren, daß Sie ein weiser Mann sind.«
»Hamid ist nur ein törichter Jüngling. Obwohl er sagt, ich sei ein weiser Mann, hat er meine Ratschläge nie befolgt. Mohamed, der Prophet, war ein weiser Mann, Allahs Segen möge bei ihm sein.«
Ich deutete auf ihr Auto.
»Sie sollten nicht allein durch eine Gegend fahren, die Sie nicht kennen, und sollten sich auch nicht ohne Führer hierher wagen.«
Anstatt mir zu antworten, stellte sie den Kassettenrekorder an. Anschließend sah ich nur noch eine Frau, die auf den Dünen tanzte, und ein Kind, das verblüfft und fröhlich zu ihr hinschaute. Ich hörte eine Musik, die die ganze Wüste zu erfüllen schien. Als sie mit dem Tanzen fertig war, fragte sie mich, ob es mir gefallen habe.
Ich sagte ja. In unserer Religion gibt es eine Gruppe von Menschen, die tanzen, um mit Allah – gelobt sei sein Name – in Kontakt zu treten: die Sufis.
»Seit meiner Kindheit«, fuhr die Frau fort, die sich als Athena vorgestellt hatte, »fühle ich, daß ich mich Gott nähern muß, aber das Leben entfernt mich immer von ihm. Die Musik ist eine Möglichkeit, die ich gefunden habe, um mich ihm wieder zu nähern. Aber das reicht nicht. Immer wenn ich tanze, sehe ich ein Licht, und dieses Licht bittet mich weiterzugehen. Ich kann nicht immer nur allein, aus mir heraus, lernen, ich brauche jemanden, der mich unterrichtet.«
»Egal, was man macht, es ist genug«, entgegnete ich. »Denn Allah, der Barmherzige, ist immer nahe. Lebe ein würdiges Leben, das reicht.«
Doch die junge Frau schien nicht überzeugt zu sein. Ich sagte, ich hätte zu tun, ich müsse das Abendessen für die wenigen Touristen zubereiten, die bald kommen würden. Sie antwortete, sie werde solange warten, wie es nötig sei.
»Und das Kind?«
»Machen Sie sich seinetwegen keine Sorgen.«