Die Anmut ist die Haltung, die für eine vollkommene Schrift die angemessene ist. Das ist genauso wie im Leben: Wenn das Überflüssige abgestoßen wird, entdeckt der Mensch die Einfachheit und die Konzentration: Je einfacher und ernster die Haltung, desto schöner, auch wenn sie anfangs unbequem erscheint.«
Hin und wieder redete Athena mit mir über ihre Arbeit. Sie erzählte, daß sie von dem, was sie tat, begeistert sei und gerade ein Angebot von einem mächtigen Emir erhalten habe. Er war in die Bank gekommen, um den Direktor zu treffen, der ein Freund von ihm sei (Emire gehen nie in die Bank, um Geld abzuheben, dafür haben sie Angestellte) und hatte in Athenas Beisein erwähnt, er suche jemanden, der sich um den Verkauf von Grundstücken kümmere – ob sie interessiert sei. Wer möchte schon mitten in der Wüste oder bei einem abgelegenen Hafen ein Grundstück kaufen? Ich verkniff mir die Frage, und rückblickend bin ich froh, daß ich nichts gesagt habe.
Ein einziges Mal nur erzählte sie mir von der Liebe zu einem Mann. Zwar versuchten jedes Mal einige der Touristen, die zum Abendessen kamen, sie irgendwie zu verführen, doch normalerweise kümmerte sich Athena nicht darum. Bis eines Tages einer andeutete, ihren Freund zu kennen. Sie wurde blaß und schaute sofort zu ihrem Sohn, der das Gespräch zum Glück nicht verfolgte.
»Woher kennen Sie ihn?«
»Ich habe nur gescherzt«, sagte der Mann. »Ich wollte wissen, ob Sie noch frei sind.«
Sie antwortete darauf nichts, aber ich begriff, daß der Mann in ihrem Leben nicht der Vater des Jungen war.
Eines Tages kam sie früher als gewöhnlich. Sie sagte, sie habe die Arbeit in der Bank aufgegeben und damit angefangen, Grundstücke zu verkaufen. So hätte sie mehr freie Zeit. Ich erklärte ihr, ich könne sie nicht vor der vereinbarten Zeit unterrichten, da ich noch einiges zu erledigen hätte.
»Bei dieser neuen Tätigkeit kann ich zwei Dinge miteinander verbinden: Bewegung und Ruhe. Freude und Konzentration.«
Sie ging zum Wagen und holte das Tonbandgerät. Von nun an tanzte Athena in der Wüste, bevor der Unterricht begann, während das Kind lachend um sie herumsprang. Wenn sie sich dann hinsetzte, um Kalligraphie zu üben, war ihre Hand sicherer als vorher.
»Es gibt zwei Arten von Buchstaben«, erklärte ich. »Die einen sind perfekt, doch ohne Seele geschrieben. In diesem Fall hat sich der Kalligraph, obwohl er die Technik beherrscht, nur auf das Handwerkliche konzentriert – und sich deshalb nicht weiterentwickelt, er wiederholt sich immer wieder, kann deshalb nicht wachsen, und eines Tages wird er das Schreiben lassen, weil er findet, daß es nur noch Routine ist.
Die zweite Art von Buchstaben sind die, die mit technischem Können, aber auch mit der Seele geschrieben sind. Dazu muß die Intention des Schreibenden mit dem Wort übereinstimmen. In diesem Fall verlieren die traurigsten Verse ihren Schrecken und werden zu etwas Selbstverständlichem, das uns auf unserem Weg immer wieder begegnet.«
»Was machen Sie mit Ihren Zeichnungen?«, fragte Athenas Sohn in perfektem Arabisch. Auch wenn er unserer Unterhaltung nicht folgen konnte, tat er doch alles, um an der Arbeit seiner Mutter teilzuhaben.
»Ich verkaufe sie.«
»Kann ich meine Zeichnungen auch verkaufen?«
»Das solltest du tun. Eines Tages wirst du damit reich und kannst deiner Mutter helfen.«
Viorel freute sich über meine Bemerkung und zeichnete weiter: einen bunten Schmetterling.
»Und was mache ich mit meinen Texten?«, fragte Athena.
»Sie wissen bereits, welche Mühe es kostet, die richtige Haltung einzunehmen, die Seele zu beruhigen, das Ziel deutlich vor sich zu sehen, jeden Buchstaben eines Wortes zu achten. Doch einstweilen sollten Sie einfach nur üben.
Wenn wir lange genug geübt haben, denken wir nicht mehr an die einzelnen Bewegungen: sie werden zum Teil unseres Lebens. Um diesen Zustand zu erreichen, müssen wir allerdings üben, üben und nochmals üben. Und nochmals und nochmals.
Beobachten Sie einmal einen guten Schmied dabei, wie er Stahl bearbeitet. Für das ungeübte Auge wiederholt er die immer gleichen Hammerschläge.
Aber wer die Kunst der Kalligraphie kennt, weiß, daß die Intensität des Schlages jedes Mal eine andere ist, wenn er den Hammer hebt und senkt. Die Hand wiederholt jedes Mal die gleiche Bewegung, aber während die Hand sich dem Eisen nähert, weiß sie, ob der Hammer es härter oder sanfter berühren muß. So ist das mit der Wiederholung: Auch wenn alles gleich aussieht, ist es jedes Mal anders.
Irgendwann wird der Augenblick kommen, in dem Sie nicht mehr über das nachdenken, was Sie tun. Sie werden zum Buchstaben, zur Tinte, zum Papier, zum Wort.«
Dieser Augenblick kam fast ein Jahr später. Inzwischen war Athena in Dubai bereits bekannt, sie schickte Kunden zum Abendessen in mein Zelt. Durch diese erfuhr ich, daß sie als Immobilienmaklerin Erfolg hatte: Sie verkaufte Stücke der Wüste. Irgendwann erschien mit großem Gefolge der Emir persönlich bei mir. Ich erschrak. Ich war nicht darauf vorbereitet, aber er beruhigte mich und dankte mir für alles, was ich für seine Angestellte Athena tat.
»Sie ist ein außergewöhnlicher Mensch und führt ihre Fähigkeiten auf das zurück, was sie von Ihnen lernt. Ich denke daran, Athena zur Teilhaberin zu machen. Vielleicht sollte ich meine anderen Verkäufer ebenfalls herschicken, damit sie Kalligraphie lernen, zumal Athena einen Monat lang Urlaub machen wird.«
»Das wird nichts ändern«, antwortete ich. »Kalligraphie ist nur eine von vielen Aufgaben, die Allah – gelobt sei sein Name – uns stellt. Die Kalligraphie lehrt uns Objektivität und Geduld, Respekt und Anmut, aber wir können das alles auch … «
»…im Tanz lernen«, fuhr Athena fort, die zu uns getreten war.
»Oder beim Grundstücke-Verkaufen«, meinte ich.
Als der Emir mit seinem Gefolge gegangen war und Athenas Sohn sich in einer Ecke des Zeltes hingelegt hatte, da ihm die Augen vor Müdigkeit fast zufielen, holte ich das Schreibzeug und bat Athena, etwas zu schreiben. Mitten im Wort nahm ich ihr die Feder aus der Hand. Jetzt war der Augenblick gekommen, ihr zu sagen, was gesagt werden mußte. Ich schlug ihr vor, ein paar Schritte hinaus in die Wüste zu tun.
»Sie haben gelernt, was zu lernen war«, sagte ich. »Ihre Kalligraphie wird immer persönlicher, spontaner. Sie ist nicht nur eine Wiederholung der Schönheit, sondern eine persönliche schöpferische Geste. Sie haben begriffen, was die großen Maler wissen: Um Regeln zu vergessen, muß man sie kennen und achten.
Sie brauchen die Werkzeuge, die Sie es gelehrt haben, nicht mehr. Sie brauchen kein Papier, keine Tinte, keine Feder mehr, denn der Weg ist wichtiger als das, was Sie dazu gebracht hat, ihn zu beschreiten. Sie haben mir erzählt, daß die Person, die Ihnen das Tanzen beibrachte, sich die Musik nur im Kopf vorstellte, und dennoch konnte er die Rhythmen exakt wiederholen.«
»Ja, genau.«
»Wären die Worte alle miteinander verbunden, würden sie keinen Sinn ergeben oder wären nur schwer begreiflich: es muß Zwischenräume geben.«
Sie nickte zustimmend.
»Sie beherrschen die Worte, aber die leeren Stellen beherrschen Sie noch nicht. Ihre Hand arbeitet makellos, solange sie konzentriert ist. Wenn sie aber von einem Wort zum nächsten springt, ist sie verloren.«
»Woher wissen Sie das ?«
»Stimmt es?«
»Ja, das stimmt. In Sekundenbruchteilen, bevor ich mich auf das nächste Wort konzentriere, verliere ich mich, überfallen mich Gedanken, die ich nicht will.«
»Und wissen Sie genau, was für Gedanken es sind?«
Athena wußte es, schwieg aber, bis wir zum Zelt zurückgekehrt waren und sie den schlafenden Sohn im Arm hielt. Tränen schimmerten in ihren Augen, obwohl sie sich zu beherrschen versuchte.