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»Der Emir sagte, Sie hätten jetzt Urlaub.«

Sie machte die Wagentür auf, steckte den Schlüssel ins Zündschloß und ließ den Motor an. Einige Augenblicke lang durchbrach einzig das Motorgeräusch die Stille der Wüste.

»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, sagte Athena schließlich. »Wenn ich schreibe, wenn ich tanze, werde ich von der Hand geführt, die alles geschaffen hat. Wenn ich den schla­fenden Viorel betrachte, weiß ich, daß er weiß, daß er ein Kind meiner Liebe zu seinem Vater ist, auch wenn ich Viorels Vater seit mehr als einem Jahr nicht gesehen habe. Aber ich …«

Sie schwieg. Die Stille war die leere Stelle zwischen den Worten.

»… aber ich kenne die Hand nicht, die mich zum ersten Mal in den Schlaf gewiegt hat. Die Hand, die mich in das Buch dieser Welt geschrieben hat.«

Ich nickte nur.

»Finden Sie das wichtig?«

»Nicht unbedingt. Aber in Ihrem Falle wird Ihre … Ihre Kalligraphie nicht besser werden, solange Sie diese Hand nicht berührt haben.«

»Ich glaube nicht, daß es notwendig ist, herauszufinden, wer sich nie die Mühe gemacht hat, mich zu lieben.«

Athena schloß die Wagentür, lächelte und fuhr los. Trotz ihrer Worte wußte ich, was ihr nächster Schritt sein würde.

Samira R. Khalil, Athenas Mutter

Ich hatte den Eindruck, als wären all ihre beruflichen Erfolge, ihr Talent, Geld zu verdienen, die Freude an ihrer neuen Liebe und an Viorel plötzlich nebensächlich. Ich erschrak zutiefst, als Sherine mir mitteilte, ihre leibliche Mutter suchen zu wollen.

Anfangs tröstete mich natürlich der Gedanke, daß es das Adoptionszentrum vermutlich nicht mehr gab, die Karteikarten bestimmt verlorengegangen waren und daß die ehemaligen Angestellten schwer zu finden und überdies nicht gerade hilfsbereit sein würden. Außerdem war die Regierung gerade gestürzt worden, und man konnte unmöglich dorthin reisen. Vielleicht war ja auch die Frau, die Sherine auf die Welt gebracht hatte, nicht mehr am Leben. Aber dieser Trost hielt nicht lange vor: meine Tochter war zu allem imstande und hatte schon oft scheinbar unüberwindliche Probleme meistern können.

Bis zu diesem Augenblick war das Thema in der Familie tabu gewesen. Sherine wußte, daß sie adoptiert worden war, denn der Psychiater in Beirut hatte mir geraten, es ihr zu sa­gen, sobald sie alt genug wäre, es zu verstehen. Aber sie war nie daran interessiert gewesen zu erfahren, aus welchem Land sie kam – ihr Zuhause war Beirut gewesen, als es noch für uns alle ein Zuhause war.

Da sich der Adoptivsohn einer Freundin mit 16 umgebracht hatte, als seine Mutter eine leibliche Tochter bekam, haben wir keine weiteren Kinder adoptiert. Wir haben keine Mühen gescheut, um Sherine zu zeigen, daß all unsere Freude, unsere Sorge, unsere Liebe und Hoffnung nur ihr galten. Aber das schien alles nicht zu zählen. Mein Gott, wie undankbar Kinder sein können!

Da ich meine Tochter kannte, wußte ich, daß es überhaupt nichts bringen würde, mit ihr darüber zu diskutieren. Mein Mann und ich haben eine Woche lang kein Auge zubekommen, und jeden Morgen, jeden Abend wurden wir erneut mit der Frage bombardiert: In welcher Stadt in Rumänien bin ich geboren? Die Situation wurde noch schwieriger, weil Viorel ständig weinte, als würde er begreifen, was passierte.

Ich suchte wieder einen Psychiater auf. Ich erzählte ihm die Geschichte und fragte ihn, wieso eine junge Frau, die im Leben sonst doch alles hatte, immer so unzufrieden sei.

»Wir alle wollen wissen, woher wir kommen«, sagte er. »Diese philosophische Frage bewegt jeden Menschen. Im Falle Ihrer Tochter finde ich es vollkommen gerechtfertigt, daß sie ihre Herkunft erfahren möchte. Würden Sie das nicht auch wollen?«

Nein, ich hätte das nicht gewollt. Ganz im Gegenteil, ich würde es für gefährlich halten, jemanden zu suchen, der mich abgelehnt und abgewiesen hat, als ich noch nicht allein überleben konnte.

Doch der Psychiater ließ nicht locker:

»Sie sollten ihr helfen, anstatt mit ihr zu streiten. Vielleicht gibt Sherine ihren Plan ja auf, wenn sie sieht, daß Sie kein Problem damit haben. Das Jahr, das sie fern von ihren Freunden zugebracht hat, könnte eine emotionale Bedürftigkeit geschaffen haben, die sie jetzt mit kleinen Provokationen zu kompensieren versucht. Nur um die Gewißheit zu haben, daß sie geliebt wird.«

Sherine wäre besser selbst zum Psychiater gegangen, dann hätte sie vielleicht die Gründe für ihr Verhalten begriffen.

»Bringen Sie ihr Vertrauen entgegen, betrachten Sie es nicht als Bedrohung. Und wenn sie dann immer noch nicht aufgibt, dann sollten Sie ihr die Informationen geben, um die sie bittet. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, war sie schon immer schwierig. Vielleicht geht sie ja aus dieser Suche gestärkt hervor.«

Ich fragte den Psychiater, ob er Kinder habe. Er verneinte, und ich begriff sofort, daß er nicht der Richtige war, um mir Ratschläge zu geben.

Als wir an diesem Abend vor dem Fernseher saßen, kam Sherine wieder auf das Thema zu sprechen.

»Was seht ihr gerade?«

»Nachrichten. «

»Wozu?«

»Um Neuigkeiten aus dem Libanon zu erfahren«, antwortete mein Mann.

Ich sah die Falle, aber es war schon zu spät. Sherine nutzte die Situation sofort aus.

»Ihr interessiert euch für das, was in dem Land passiert, in dem ihr geboren seid. Ihr habt euch in England gut eingelebt, habt Freunde, du verdienst hier viel Geld, Papa, ihr lebt in Sicherheit. Dennoch kauft ihr libanesische Zeitungen. Ihr sucht extra Sender, die über den Libanon berichten. Ihr stellt euch die Zukunft so vor wie die Vergangenheit, ohne dabei zu sehen, daß der Krieg nie aufhören wird.

Oder, besser gesagt, wenn ihr nicht in Kontakt mit eurer Herkunft steht, habt ihr den Kontakt zur Welt verloren. Ist es denn so schwer zu begreifen, was ich fühle?«

»Du bist unsere Tochter.«

»Und ich bin sehr stolz darauf. Und ich werde immer eure Tochter bleiben. Zweifelt bitte nie an meiner Liebe und meiner Dankbarkeit für alles, was ihr getan habt: Ich will doch nur den Ort sehen, wo ich geboren bin. Vielleicht werde ich meine leibliche Mutter fragen, warum sie mich verlassen hat, vielleicht lasse ich es aber auch, wenn ich in ihre Augen sehe. Wenn ich nicht hinfahre, werde ich mich immer als Feigling fühlen und niemals die leeren Stellen begreifen.«

»Die leeren Stellen?«

»Ich habe in Dubai Kalligraphie gelernt. Außerdem tanze ich, wenn immer es geht. So, wie es nur Musik gibt, weil es Pausen gibt, existieren Sätze nur, weil es leere Stellen zwi­schen den Wörtern gibt. Solange ich etwas tue, fühle ich mich ganz. Aber niemand kann vierundzwanzig Stunden aktiv sein. In dem Augenblick, in dem ich aufhöre, etwas zu tun, fühle ich, daß mir etwas fehlt.

Ihr habt mehr als einmal gesagt, daß ich von Natur aus unruhig sei. Aber ich habe mir das nicht ausgesucht: Ich würde gern ruhig hier sitzen und fernsehen. Es ist unmöglich: mein Kopf hört nicht auf zu arbeiten. Manchmal denke ich, ich werde verrückt, ich muß immer tanzen, schreiben, Grundstücke verkaufen, mich um Viorel kümmern, alles lesen, was mir in die Hände fällt. Findet ihr das normal?«

»Vielleicht ist das einfach nur dein Temperament«, sagte mein Mann.

Damit endete das Gespräch, so wie es immer endete: Viorel weinte, Sherine verschanzte sich hinter ihrem Schweigen, und ich dachte wieder einmal, daß Kinder nie anerkennen, was Eltern alles für sie tun. Am nächsten Morgen kam allerdings mein Mann auf das Thema zu sprechen.

»Vor einiger Zeit, als du gerade in Dubai warst, bin ich in den Libanon gefahren, um zu erkunden, ob wir wieder zurückkehren können. Ich bin in die Straße gegangen, in der wir gewohnt haben. Das Haus steht nicht mehr, aber das Land wird trotz der ausländischen Besatzung und ständiger Invasionen wiederaufgebaut. Mich überkam ein Gefühl der Euphorie. War nicht der Augenblick für einen Neuanfang gekommen? Aber das Wort >Neuanfang< brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Die Zeit für Neuanfänge liegt hinter mir. Heute möchte ich mit dem weitermachen, was ich jetzt mache, und brauche keine neuen Abenteuer.