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Wer weiß, vielleicht hat sie den Tod gesucht wie ein Schiffbrüchiger eine Insel. Ich stelle mir vor, wie sie sich im Morgengrauen in vielen U-Bahn-Stationen aufgehalten und vergebens auf diejenigen gewartet hat, die sie überfallen würden.

Sie wird auf der Suche nach einem Mörder, der sich nicht zeigte, durch die gefährlichsten Stadtteile Londons gewandert sein. Sie wird den Zorn der Starken provoziert haben, die nicht in der Lage waren, ihre Wut zu offenbaren.

Bis es ihr gelang, brutal ermordet zu werden. Aber wie viele von uns werden letzten Endes davon verschont, erleben zu müssen, wie die wichtigen Dinge in unserem Leben von einem Augenblick zum anderen verschwinden? Ich meine damit nicht nur Menschen, sondern auch unsere Ideale und unsere Träume: Möglicherweise halten wir einen Tag, eine Woche, ein paar Jahre stand, aber wir sind immer dazu verdammt zu verlieren.

Unser Körper lebt weiter, aber die Seele erhält früher oder später den Todesstoß. Ein perfektes Verbrechen, bei dem nicht bekannt ist, wer unsere Lebensfreude getötet hat, welche Gründe dazu geführt haben und wo die Schuldigen zu finden sind.

Aber sind sich diese namenlosen Schuldigen überhaupt dessen bewußt, was sie getan haben? Ich glaube nicht, denn sie sind ebenfalls Opfer der von ihnen geschaffenen Wirklichkeit – egal, ob sie depressiv, arrogant, machtlos oder mächtig sind.

Sie verstehen Athenas Welt nicht und würden sie auch nie verstehen. Ja, ich kann es nur so ausdrücken: Athenas Welt. Ich akzeptiere endlich, daß ich dort nur vorübergehend war, aufgrund eines Gefallens, der mir erwiesen wurde, wie jemand, der sich in einem schönen Palast befindet, die allerbesten Gerichte ißt, aber immer weiß, daß alles nur ein Fest ist, daß der Palast nicht ihm gehört, das Essen nicht von seinem Geld gekauft wurde und irgendwann die Lichter verlöschen, die Besitzer schlafen gehen, die Bediensteten in ihre Zimmer zurückkehren, die Tür zufällt und wir wieder auf der Straße stehen und auf ein Taxi oder einen Bus warten, der uns in die Mittelmäßigkeit unseres Lebens zurückbringt.

Ich bin dabei zurückzukehren. Oder, besser gesagt: Ein Teil von mir ist dabei, in diese Welt zurückzukehren, in der nur das einen Sinn ergibt, was wir sehen, berühren und erklären können: die Bußgelder wegen überhöhter Geschwindigkeit, Menschen, die an den Bankschaltern diskutieren, die ewigen Klagen über das Wetter, die Horrorfilme und die Formel-1-Rennen. Dies ist das Universum, in dem ich den Rest meiner Tage verbringen werde. Ich werde heiraten, Kinder haben, und die Vergangenheit wird nur mehr eine ferne Erinnerung sein, und ich werde mich dann fragen: Wie konnte ich so blind, wie konnte ich so naiv sein?

Nachts aber wird ein anderer Teil von mir durch den Raum irren, in Kontakt mit Dingen stehen wird, die nicht so real wie eine Packung Zigaretten sind und das Glas Gin, das vor mir steht. Meine Seele wird mit Athena tanzen, ich werde bei ihr sein, während ich schlafe. Ich werde schwitzend aufwachen, in die Küche gehen, um ein Glas Wasser zu trinken, und begreifen, daß man, um Gespenster zu bekämpfen, etwas tun muß, das in der realen Welt keinen Sinn ergibt. Dann werde ich, den Rat meiner Großmutter befolgend, eine geöffnete Schere auf meinen Nachttisch legen und so die Fortsetzung des Traumes abschneiden.

Am nächsten Morgen werde ich die Schere mit einem leichten Gefühl des Bedauerns ansehen. Aber ich muß mich wieder in diese Welt einfügen, sonst werde ich am Ende noch verrückt.

Andrea McCain, 32 Jahre, Theaterschauspielerin

»Niemand kann einen anderen Menschen manipulieren. In einer Beziehung wissen beide, was sie tun, auch wenn einer von beiden sich hinterher beklagt, er oder sie sei benutzt worden.«

Athena sagte das – aber sie tat genau das Gegenteil, denn ich wurde ohne Rücksicht auf meine Gefühle benutzt und manipuliert. Erschwerend kommt noch hinzu, daß es um Magie ging. Schließlich war sie meine Meisterin, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, heilige Geheimnisse zu vermitteln, die unbekannte Kraft zu wecken, die wir alle in uns haben. Wenn wir uns auf dieses unbekannte Meer hinausbegeben, vertrauen wir denen, die uns führen, blind – glauben wir, daß sie mehr wissen als wir.

Ich kann jedem versichern: Sie wissen nicht mehr als wir. Weder Athena noch Edda noch sonst jemand, den ich durch sie kennengelernt habe. Athena hat immer gesagt, daß sie lernte, indem sie lehrte, und auch wenn ich mich anfangs weigerte, dies zu glauben, konnte ich mich später davon überzeugen, daß dies durchaus möglich war. Schließlich habe ich gemerkt, daß es eine ihrer vielen Methoden war, uns dazu zu bringen, unsere Schutzmechanismen auszuschalten und ihren Zauber wirken zu lassen.

Menschen auf spiritueller Suche reflektieren nicht: sie wollen Ergebnisse. Sie wollen sich mächtig fühlen, fern der anonymen Masse. Sie wollen besonders sein. Athena spielte grausam mit den Gefühlen anderer.

Es heißt, sie habe früher die heilige Therese von Lisieux tief verehrt. Die katholische Religion interessiert mich nicht, aber dem Vernehmen nach erlebte Therese eine Art mystisches und körperliches Einssein mit Gott. Athena hat irgendwann einmal gesagt, sie wünsche sich eine ähnliche Offenbarung: Wenn das stimmte, dann hätte sie in ein Kloster eintreten, ihr Leben der Kontemplation und dem Dienst an den Armen widmen sollen. Es wäre für die Welt sehr viel nützlicher gewesen und sehr viel weniger gefährlich, als andere durch Musik und Rituale in eine Art Trunkenheit zu versetzen, in der sie in Kontakt zum Besten, aber auch zum Schlechtesten ihrer selbst treten können.

Ich bin zu ihr gekommen, als ich auf der Suche nach dem Sinn meines Lebens war – auch wenn ich das bei unserer ersten Begegnung verschwiegen habe. Ich hatte wohl von Anfang an begriffen, daß Athena daran nicht besonders interessiert war. Sie wollte leben, tanzen, lieben, reisen, Menschen um sich versammeln, um zu zeigen, wie weise sie war, ihre Gaben zur Schau stellen, ihre Mitmenschen provozieren, alles Profane nutzen – auch wenn sie sich bemühte, ihrer Suche einen spirituellen Anstrich zu geben.

Jedes Mal, wenn wir uns zu magischen Zeremonien oder auch nur zu einem Barbesuch trafen, spürte ich ihre Macht. Sie war geradezu greifbar, so stark offenbarte sie sich. Anfangs war ich fasziniert, wollte ich sein wie sie.

Aber eines Tages – mein Freund war auch dabei – hat sie in einer Bar über das »Dritte Ritual« gesprochen, das die Sexualität betrifft. Unter dem Vorwand, es mir beibringen zu wollen. Ihr Ziel war meiner Meinung nach, den Mann zu verführen, den ich liebte.

Und das ist ihr selbstverständlich gelungen.

Man soll nicht schlecht von Menschen reden, die dieses Leben bereits verlassen haben und sich nun in einer anderen Welt befinden. Mir gegenüber braucht Athena sich nicht zu rechtfertigen, wohl aber allen den Kräften gegenüber, die sie nur für ihre eigenen Zwecke genutzt hat, anstatt sie zugunsten der Menschheit und zur eigenen spirituellen Erhöhung einzusetzen.

Und, was noch schlimmer ist: Alles, was wir begonnen haben, hätte gut ausgehen können, wäre da nicht ihr zwanghafter Hang zur Selbstdarstellung gewesen. Wäre sie zurückhaltender gewesen, könnten wir heute die Mission erfüllen, die uns anvertraut wurde. Aber sie hatte sich nicht in der Gewalt, sie glaubte, die Wahrheit zu besitzen, glaubte, sie sei in der Lage, alle Grenzen zu überschreiten, nur indem sie ihre Verführungskraft nutzte.

Und was ist das Ergebnis? Ich bin allein zurückgeblieben. Ich darf die Arbeit nicht auf halbem Weg aufgeben – ich muß sie zu Ende führen, obwohl ich mich manchmal schwach und fast immer mutlos fühle.

Mich überrascht nicht, daß ihr Leben so geendet hat: sie hat ständig die Gefahr gesucht. Man sagt, extrovertierte Menschen seien unglücklicher als introvertierte und müßten dies kompensieren, indem sie sich selber beweisen, daß sie zufrieden, fröhlich sind und daß sie das Leben genießen. Zumindest auf Athena trifft dies zu.