Mein Dolmetscher kam kurz darauf. Ganz außer Atem meinte er, er habe alles Notwendige bekommen, aber es würde alles etwas teurer werden (das hatte ich schon erwartet). Ich ging in mein Zimmer, nahm den bereits gepackten Koffer und setzte mich in einen klapprigen russischen Wagen.
Wir fuhren über Boulevards, auf denen es fast keinen Verkehr gab, und dabei merkte ich, daß ich neben meinem kleinen Fotoapparat, meinen Habseligkeiten, meinen Sorgen, Mineralwasserflaschen, Butterbroten auch noch die Erinnerung an eine Frau im Gepäck hatte, die mir nicht mehr aus dem Sinn ging.
In den folgenden Tagen, in denen ich das Drehbuch zur Dokumentation über den historischen Dracula vervollständigte und – wie erwartet – ergebnislos Bauern und Intellektuelle zum Mythos des Vampirs interviewte, dämmerte mir, daß ich nicht nur hier war, um einen Dokumentarfilm für das englische Fernsehen zu machen. Ich hätte gern diese abweisende junge Frau wiedergetroffen, der ich in der Hotellobby in Bukarest begegnet war und die sich in diesem Augenblick nicht weit von mir befinden mußte. Ich kannte zwar nur ihren Namen, aber sie saugte wie einer dieser sagenumwobenen Vampire meine ganze Energie aus.
Das war verrückt, unsinnig und paßte nicht in meine Welt und nicht in die aller anderen Menschen, die ich kannte.
Deidre O'Neill, bekannt als Edda
Ich habe Athena das erste Mal in der Lobby eines Hotels in Bukarest gesehen. Damals dachte ich mir, ich weiß zwar nicht, was sie hier macht, aber wie auch immer, sie muß ihren Weg bis zum Ende gehen. Ich mußte die letzten Worte laut gesagt haben, denn sie schaute mich verblüfft an.
»Wer sind Sie?«
Ich gab keine Antwort, sondern sagte, ich hätte aus der Frauenzeitschrift zitiert, die ich gerade las, und redete weiter über den vermeintlichen Artikel, bis der Mann, der an ihrem Tisch saß, sich erhob und ging.
»Falls Sie wissen möchten, was ich beruflich mache: Ich habe vor ein paar Jahren mein Medizinstudium abgeschlossen. Aber das interessiert Sie möglicherweise gar nicht.«
Ich machte eine Pause.
»Vielleicht möchten Sie ja eher wissen, was ich in diesem Land mache, das nach bleiernen Jahren wieder zum Leben erwacht. «
»Genau. Was machen Sie hier ?«
Ich hätte sagen können: Ich bin zur Beerdigung meines Meisters gekommen, da ich fand, daß er diese Ehrung verdient hatte. Aber es wäre nicht klug gewesen, darüber zu sprechen. Zwar hatte sie keinerlei Interesse am Vampirismus gezeigt, den der Mann an ihrem Tisch erwähnt hatte. Aber beim Wort >Meister< würde sie vielleicht doch stutzen. Da mein Schwur mir verbietet zu lügen, antwortete ich mit einer Halbwahrheit:
»Ich wollte sehen, wo ein Schriftsteller namens Mircea Eliade, von dem Sie wahrscheinlich noch nie etwas gehört haben, seine Jugend verlebt hat. Eliade, der einen großen Teil seines Lebens in Frankreich verbracht hat, war Spezialist für Mythen.«
Die junge Frau sah auf die Uhr und zeigte kein Interesse.
»Und mit Mythen meine ich nicht Vampire, sondern Menschen, die – sagen wir – dem Weg folgen, dem auch Sie folgen.«
Sie wollte gerade ihre Tasse zum Mund führen, hielt aber inne.
»Sind Sie von der Regierung? Oder sind Sie jemand, den meine Eltern beauftragt haben, mir zu folgen?«
Mir kamen Zweifel, ob ich das Gespräch weiterführen sollte. Ihre feindselige Haltung war vollkommen übertrieben. Doch ich konnte ihre Aura spüren, ihre Angst. Ich war wie sie gewesen, als ich in ihrem Alter war. Ich hatte wie sie innere und äußere Verletzungen, die mich dazu getrieben hatten, als Ärztin Menschen zu heilen, ihnen aber zugleich zu helfen, ihren spirituellen Weg zu finden. Ich wollte gerade sagen: »Ihre Verletzungen werden Ihnen helfen«, meine Zeitung nehmen und gehen …
Hätte ich das getan, wäre Athenas Weg möglicherweise ganz anders verlaufen. Sie würde heute noch mit dem Mann zusammenleben, den sie liebte, sich um ihren Sohn kümmern, vielleicht sogar die Besitzerin einer Immobilienfirma sein. Sie besaß alle, wirklich alle Voraussetzungen, um erfolgreich zu sein: Sie hatte genug gelitten, um ihre bitteren Erfahrungen zu ihren Gunsten zu nutzen, und es war nur eine Frage der Zeit, bis es ihr gelingen würde, ihre Unruhe zu verlieren und voranzuschreiten.
Doch was veranlaßte mich, das Gespräch weiterzuführen? Die Antwort ist einfach: Neugier. Ich war von dieser starken Aura in der kalten Hotellobby fasziniert. Ich fuhr fort:
»Mircea Eliade hat Bücher mit seltsamen Titeln geschrieben: Hexerei und kulturelle Strömungenbeispielsweise. oder Das Heilige und das Profane.mein meister (ich sagte das aus versehen, aber sie hatte es entweder nicht gehört oder tat so, als hätte sie es nicht bemerkt) liebte dessen Arbeit sehr. Und meine Intuition sagt mir, daß Sie sich für diese Themen interessieren.«
Sie sah wieder auf die Uhr.
»Ich bin auf dem Weg nach Sibiu«, sagte die junge Frau. »Mein Bus fährt in einer Stunde, ich werde meine Mutter suchen, wenn es das ist, was Sie wissen wollen. Und falls es Sie interessiert: Ich arbeite als Immobilienmaklerin im Nahen Osten und habe einen fast vierjährigen Sohn. Meine Eltern leben in London. Oder vielmehr meine Adoptiveltern, denn ich wurde als kleines Kind weggegeben. – Das wollten Sie doch wissen, oder?«
Ihre Intuition war wirklich hoch entwickelt, sie hatte sich unbewußt in mich hineinversetzt.
»Ja, das wollte ich wissen.«
»Mußten Sie von so weit herkommen, um über einen Schriftsteller zu forschen? Gibt es dort, wo Sie leben, keine Bibliotheken?«
»In der Tat hat dieser Schriftsteller nur bis zum Abschluß seines Studiums in Rumänien gelebt. Daher müßte ich, um mehr über seine Arbeit zu erfahren, nach Paris, London oder Chicago fahren, wo er übrigens gestorben ist. Ich betreibe keine Forschungen im herkömmlichen Sinne: Wie ich schon sagte, möchte ich die Welt, in die er hineingeboren wurde, kennenlernen. Ich möchte nachvollziehen, was ihn dazu bewegt hat, über Dinge zu
schreiben, die mein Leben berühren und das Leben von Menschen, die ich achte.«
»Hat er auch über Medizin geschrieben?«
Es war besser, darauf keine Antwort zu geben. Mir war klar, daß sie das Wort »Meister« mitbekommen hatte, aber glaubte, es habe etwas mit meinem Beruf zu tun.
Die junge Frau erhob sich. Ich glaube, sie ahnte, worauf ich hinauswollte – ich konnte sehen, wie ihre Aura heller strahlte. Eine Aura kann ich nur wahrnehmen, wenn ich in der Nähe von jemandem bin, der mir sehr ähnlich ist.
»Hätten Sie Lust, mich zum Bahnhof zu begleiten?«, fragte sie.
Das hatte ich tatsächlich. Mein Flug würde erst am späten Abend gehen, und ein ganzer langer Tag lag vor mir. Zudem wollte ich mich gern weiter mit ihr unterhalten.
Sie ging hinauf in ihr Zimmer und kehrte mit ihren Koffern und vielen Fragen zurück. Kaum hatten wir das Hotel verlassen, begann sie das Gespräch:
»Ich habe ein paar Fragen an Sie. Vielleicht werde ich Sie in diesem Leben nie wiedersehen, daher möchte ich Sie bitten, mir ganz direkt zu antworten.«
Ich nickte.
»Sie haben all diese Bücher gelesen. Glauben Sie, daß Tanz uns in Trance versetzen und uns ein Licht sehen machen kann? Und daß wir mit diesem Licht nichts anfangen können, es sei denn, wir sind entweder zutiefst zufrieden oder tieftraurig ?«
Die richtige Frage.
»Zweifellos. Aber nicht nur der Tanz. Alles, auf das wir uns konzentrieren können und was uns erlaubt, den Körper vom Geist zu trennen. Wie Yoga oder Beten oder die Meditation der Buddhisten.«
»Oder die Kalligraphie.«
»Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, aber das ist durchaus möglich. In diesen Augenblicken läßt der Körper die Seele frei, sie steigt in den Himmel hinauf oder in die Hölle hinab. An beiden Orten lernt sie, was sie braucht, um entweder ihren Nächsten zu heilen oder ihn zu zerstören.