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Sie öffnet die Augen. Ich überlege noch, ob ich ihr Haar berühren, ihr die Zärtlichkeit geben soll, die sich in all diesen Jahren in mir angesammelt hat, doch da ich nicht weiß, wie sie reagieren wird, lasse ich es bleiben. Eine Frage kann ich allerdings nicht zurückhalten:

»Bist du hierhergekommen, um zu erfahren, aus welchem Grund …«

»Nein. Ich will nicht wissen, warum eine Mutter ihre Tochter verläßt. Es gibt nichts, was das rechtfertigen könnte.«

Ihre Worte schneiden mir ins Herz, aber ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.

»Wer bin ich? Welches Blut fließt in meinen Adern? Gestern, nachdem ich erfahren habe, daß ich dich treffen könnte, habe ich panische Angst bekommen. Wo soll ich anfangen? Du kannst doch sicher wie alle Zigeunerinnen die Zukunft aus den Karten lesen, nicht wahr?«

»Das stimmt nicht. Das machen wir nur mit den gadje,den Fremden, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Wir lesen niemals aus den Karten oder aus der Hand, um die Zukunft zu sehen, wenn es um jemanden aus unserem Stamm geht. Und du … «

»… ich gehöre zum Stamm. Auch wenn die Frau, die mich zur Welt brachte, mich weit

weggeschickt hat.«

»Ja.«

»Was mache ich dann aber noch hier? Ich habe dein Gesicht gesehen, ich könnte wieder nach London zurückkehren, außerdem ist mein Urlaub bald zu Ende.«

»Möchtest du nicht wissen, wer dein Vater ist?«

»Das interessiert mich überhaupt nicht.«

Und plötzlich wird mir klar, wie ich ihr helfen kann. Es ist, als würde ich mit einer fremden Stimme sprechen:

»Verstehe besser, welches Blut in deinen Adern fließt und in deinem Herzen!«

Mein Meister spricht aus mir. Sie schließt die Augen wieder und schläft dann ununterbrochen fast zwölf Stunden lang.

Am nächsten Morgen will ich sie in die Umgebung von Sibiu führen, wo ein Freilichtmuseum mit Häusern aus der ganzen Region gebaut worden ist. Das erste Mal habe ich die Freude, ihr Frühstück zuzubereiten. Sie ist ausgeruhter, weniger angespannt und fragt mich über die Zigeunerkultur aus, will aber nichts über mich wissen. Sie erzählt auch etwas von sich, und ich erfahre, daß ich Großmutter bin! Sie sagt weder etwas über den Vater ihres Sohnes noch über ihre Adoptiveltern. Sie erzählt, daß sie an einem Ort, der sehr weit von hier entfernt liegt, Grundstücke verkauft und bald wieder an ihre Arbeit zurück muß.

Ich biete ihr an, ihr beizubringen, wie man Amulette zum Schutz gegen das Böse macht, doch sie zeigt kein Interesse. Doch als ich ihr von Heilkräutern erzähle, bittet sie mich, ihr zu zeigen, wie man sie erkennt. In der Parkanlage, in der wir spazieren gehen, versuche ich, ihr all mein Wissen weiterzugeben, obwohl ich sicher bin, daß sie es vergessen wird, sobald sie in ihre Heimatstadt zurückkehrt, die, wie ich inzwischen weiß, London ist.

»Wir besitzen die Erde nicht: sie besitzt uns. Da wir früher unablässig reisten, gehörten wir allem, was uns umgab, und damit gehörte es zu uns: die Pflanzen, das Wasser, die Landschaften, durch die wir kamen. Unsere Gesetze waren die Gesetze der Natur: die Stärksten überleben, und wir, die Schwachen, die ewigen Verbannten, haben gelernt, unsere Kräfte zu verbergen, sie nur einzusetzen, wenn es unumgänglich ist.

>Wir glauben, daß Gott das Universum geschaffen hat. Gott ist das Universum, wir sind in ihm, er ist in uns.< Obwohl …«

Ich breche ab. Doch dann fahre ich fort, denn dies ist eine Möglichkeit, meinem Beschützer Ehre zu erweisen.

»… obwohl wir ihn meiner Meinung nach Göttin, Mutter, nennen sollten. Mit Mutter meine ich nicht eine leibliche Mutter, sondern die Mutter, die in uns ist und uns schützt, wenn wir in Gefahr sind. Sie wird immer mit uns sein, wenn wir unsere täglichen Aufgaben freudig und mit Liebe erledigen. All diese Arbeit ist für uns keine Qual, sondern unsere Art, die Schöpfung zu preisen.«

Athena – so nennt sich meine Tochter – wendet den Blick zu ein paar Häusern.

»Was ist das? Eine Kirche ?«

Die mit ihr verbrachten Stunden hatten mich stark gemacht. Ich frage sie, ob sie das Thema wechseln will. Sie überlegt einen Augenblick, bevor sie antwortet:

»Ich möchte alles hören, was du mir zu sagen hast. Obwohl das, was du gerade gesagt hast, nicht zu dem paßt, was ich über die Tradition der Zigeuner gelesen habe, bevor ich hierhergekommen bin.«

»Mein Beschützer hat es mich gelehrt. Denn er wußte Dinge, die die Zigeuner nicht wissen. Und je mehr ich von ihm gelernt habe, umso stärker wurde ich mir der Kraft der Mutter bewußt – ausgerechnet ich, die ich das Muttersein abgelehnt habe.«

Ich packte die Zweige eines kleinen Busches.

»Wenn dein Sohn einmal Fieber hat, setze ihn neben eine junge Pflanze und schüttle deren Blätter. Das Fieber wird auf die Pflanze übergehen. Falls du unter Angstgefühlen leidest, tue das Gleiche.«

»Ich würde gern mehr über deinen Beschützer erfahren.«

»Er hat mir gesagt, daß die Schöpfung am Anfang sehr einsam war. Darauf schuf sich die Göttin jemanden, mit dem sie reden konnte. Beide schufen in einem Liebesakt ein drittes Wesen, und fortan vermehrten sich diese Wesen tausend-, millionenfach. Du hast mich nach der Kirche gefragt, die wir gerade gesehen haben: Ich weiß nichts über ihre Geschichte, und sie interessiert mich auch nicht. Mein Tempel ist die Natur, der Himmel, das Wasser des Sees und des Baches, der ihn nährt. Mein Volk sind die Menschen, die diese Vorstellung mit mir teilen, und nicht jene, mit denen mich Blutsbande verbinden. Meine Andacht besteht darin, mit diesen Menschen zusammen zu sein, alles, was mich umgibt, zu feiern. – Wann mußt du wieder gehen?«

»Vielleicht schon morgen. Wenn ich dir nicht zur Last falle, würde ich gerne heute noch bleiben.«

Ein weiterer Stich in mein Herz, aber ich darf nichts sagen.

»Bleib, solange du willst. Ich möchte nur wissen, ob du mit den anderen deine Heimkehr feiern möchtest. Wenn du willst, kann ich das heute Abend arrangieren.«

Sie sagt nichts, und ich deute das als Ja. Wir machen uns auf den Heimweg. Ich bereite ihr wieder etwas zu essen. Sie sagt, sie muß ins Hotel in Sibiu fahren, um etwas zum Anziehen zu holen, und als sie wiederkommt, habe ich schon alles organisiert. Wir, meine Tochter, meine Leute und ich, begeben uns zu einem Hügel im Süden der Stadt und setzen uns um ein Feuer. Wir machen Musik, singen, tanzen, erzählen Geschichten. Sie sieht allem zu, beteiligt sich aber nicht, obwohl der Rom Baro gesagt hat, daß sie eine ausgezeichnete Tänzerin sei. Zum ersten Mal seit all diesen Jahren bin ich fröhlich, denn es ist mir gelungen, für meine Tochter eine Versammlung meiner Leute zu arrangieren und mit ihr das Wunder zu feiern, daß wir beide am Leben, gesund und in der Liebe der Großen Mutter geborgen sind.

Am Ende sagt sie, daß sie diese Nacht im Hotel schlafen wird. Ich frage, ob das ein Abschied sei. Sie sagt nein. Sie wird morgen wiederkommen.

Eine Woche verehren meine Tochter und ich allabendlich gemeinsam das Universum. An einem dieser Abende bringt sie einen Freund mit, erklärt aber ausdrücklich, daß er weder ihr Geliebter noch der Vater ihres Sohnes sei.

Der Mann, der etwa zehn Jahre älter ist als sie, fragt, wen wir in unseren Ritualen verehren. Ich erkläre ihm, daß jemanden verehren meinem Beschützer zufolge bedeutet, ihn außerhalb unserer Welt zu stellen. Wir verehren nichts, sind nur eins mit der Schöpfung.

»Aber Sie beten doch?«

»Ich persönlich bete zur Heiligen Sara. Aber wir hier sind Teil des Ganzen, wir feiern, anstatt zu beten.«

Athena ist sicher stolz auf meine Antwort, sage ich mir. Tatsächlich aber habe ich nur die Worte meines Beschützers wiederholt.

»Und warum tut ihr es gemeinsam, man kann doch unsere Verbindung mit dem Universum auch allein feiern?«