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»Weil die anderen ich sind und ich die anderen bin.«

In diesem Augenblick schaut mich Athena an, und ich spüre, daß diesmal ich ihr einen Stich ins Herz versetze.

»Ich reise morgen ab«, sagt sie.

»Komm und verabschiede dich von deiner Mutter, bevor du abreist.«

Es ist das erste Mal, daß ich dieses Wort benutze. Meine Stimme zittert nicht, mein Blick ist fest, und ich weiß, daß, was auch immer geschehen ist, die junge Frau dort das Blut meines Blutes, die Frucht meines Leibes ist. In diesem Augenblick verhalte ich mich wie ein kleines Mädchen, das eben gerade begriffen hat, daß die Welt nicht voller Gespenster und Verwünschungen ist, wie die Erwachsenen es ihm beibringen. Sie ist voller Liebe, unabhängig davon, wie sich die Liebe zeigt. Einer Liebe, die Fehler vergibt und von Sünden erlöst.

Sie umarmt mich lange. Dann rückt sie den Schleier zurecht, mit dem ich mein Haar bedecke – obwohl ich keinen Ehemann habe, verlangt der Brauch der Zigeuner, daß ich ihn trage, da ich keine Jungfrau mehr bin. Was wird die Zukunft für mich bereithalten außer der Abreise eines Menschen, den ich immer aus der Ferne geliebt und gefürchtet habe? Ich bin alle, und alle sind ich und meine Einsamkeit.

Am nächsten Tag erscheint Athena mit einem Blumenstrauß, stellt ihn in mein Zimmer und meint, ich müsse eine Brille tragen, da meine Augen von der Näharbeit immer schwächer würden. Athena fragt, ob sie und die Freunde, mit denen sie gefeiert hat, am Ende nicht Probleme mit dem Stamm bekämen. Ich sage nein, mein Beschützer sei ein sehr geachteter Mann gewesen, der viel gelernt habe, was wir nicht wissen, und Schüler auf der ganzen Welt hat. Und ich erzähle ihr, daß er kurz vor ihrer Ankunft verstorben ist.

»Eines Tages ist eine Katze zu ihm gekommen und hat ihn berührt. Für uns bedeutet das Tod, und wir waren alle sehr besorgt. Allerdings gibt es ein Ritual, um die Verwünschung aufzuheben.

Doch mein Beschützer sagte, es sei Zeit aufzubrechen, er müsse in Welten reisen, von deren Existenz er wußte. Er müsse als Kind wiedergeboren werden und zuvor ein wenig im Schoße der Mutter ruhen. Seine Beerdigung war einfach. Sie fand in einem Wald ganz hier in der Nähe statt. Aber es sind Menschen aus der ganzen Welt gekommen, um daran teilzunehmen. «

»War unter diesen Menschen auch eine etwa fünfunddreißigjährige schwarzhaarige Frau?«

»Ich kann mich nicht genau erinnern, aber es ist schon möglich. Warum möchtest du das wissen?«

»Ich habe im Hotel in Bukarest eine Frau getroffen, die mir erzählt hat, sie habe an der Beerdigung eines Freundes teilgenommen. Ich glaube, sie sagte so etwas wie >mein Meister.«

Athena bittet mich, ihr noch mehr über die Zigeuner zu erzählen, aber ich weiß nicht viel mehr. Vor allem weil wir unsere Geschichte kaum kennen, von unseren Bräuchen und Traditionen einmal abgesehen. Ich schlage vor, sie solle nach Frankreich gehen und in meinem Namen der heiligen Sara im kleinen Ort Les Saintes-Maries-de-la-Mer einen Umhang bringen.

»Ich bin hierhergekommen, weil etwas in meinem Leben gefehlt hat. Ich mußte unbedingt die leeren Stellen in mir füllen und hatte geglaubt, es würde reichen, nur dein Gesicht zu sehen. Doch das reichte nicht: ich mußte auch herausfinden, ob ich … geliebt worden bin.«

»Du wirst geliebt.«

Ich mache eine lange Pause: Endlich habe ich aussprechen können, was ich ihr sagen wollte, seit ich sie hatte gehen lassen. Um zu verhindern, daß die Rührung sie überkommt, fahre ich fort:

»Ich möchte dich um etwas bitten.«

»Was du willst.«

»Ich möchte um Vergebung bitten.«

Sie beißt sich auf die Lippen.

»Ich war immer sehr unruhig. Ich arbeite viel, kümmere mich intensiv um meinen Sohn, tanze wie eine Wahnsinnige, habe Kalligraphie gelernt, besuche Kurse für Verkaufsförderung, lese ein Buch nach dem anderen. Alles, um jene Augenblicke zu vermeiden, in denen nichts passiert, denn diese leeren Stellen haben mir immer das Gefühl absoluter Leere gegeben, in dem es nicht das geringste bißchen Liebe gibt. Meine Eltern haben immer alles für mich getan, aber ich glaube, ich enttäusche sie ständig.

Doch hier, in der Zeit, die wir zusammen verbracht haben, in den Augenblicken, in denen ich mit dir die Große Mutter verehrt habe, habe ich erlebt, wie diese leeren Stellen sich allmählich gefüllt haben. Zu Pausen wurden – zu dem Augenblick, in dem der Mann die Hand von der Trommel hebt, bevor er diese wieder kräftig schlägt. Ich glaube, ich kann jetzt gehen. Ich will damit nicht sagen, daß ich nun ruhiger geworden bin, denn mein Leben braucht den Rhythmus, an den ich mich gewöhnt habe. Aber ich gehe ohne Bitterkeit. Glauben alle Zigeuner an die Große Mutter ?«

»Würdest du sie fragen, würde keiner ja sagen. Die Zigeuner übernehmen Glauben und Bräuche der Orte, an denen sie sich niederlassen. Aber es gibt etwas, das uns eint: die Verehrung der heiligen Sara und daß wir mindestens einmal im Leben eine Wallfahrt zu ihrem Grab in Les Saintes-Mariesde-la-Mer machen. Einige Stämme nennen sie Kali Sara, die schwarze Sara. Oder die heilige Jungfrau der Zigeuner. So wird sie in Lourdes genannt.«

»Ich muß jetzt gehen«, sagte Athena nach einer Weile. »Der Freund, den du neulich

kennengelernt hast, wird mich begleiten.«

»Er scheint ein guter Mann zu sein.«

»Du sprichst wie eine Mutter.«

»Ich bin deine Mutter.«

»Und ich bin deine Tochter.«

Sie umarmt mich, diesmal mit Tränen in den Augen. Ich streiche ihr übers Haar, während ich sie in den Armen halte, wie ich es mir immer erträumt habe, seit das Schicksal – oder meine Angst – uns einst getrennt hat. Ich bitte sie, auf sich aufzupassen, und sie sagt, sie habe viel gelernt.

»Du wird noch viel mehr lernen, denn obwohl wir alle heute an unsere Häuser, Städte, Arbeitsplätze gebunden sind, hast du noch die Zeit der Reisen im Blut und das, was uns die Große Mutter auf unseren Wegen gelehrt hat, damit wir überleben konnten. Lerne weiter, aber lerne immer mit Menschen an deiner Seite. Bleibe auf dieser Suche nicht allein: Sonst wird, wenn du einen falschen Schritt tust, niemand da sein, um dich zurückzuführen.«

Sie weint immer noch, hält mich umarmt und ist drauf und dran, mich zu bitten, bei mir bleiben zu dürfen. Ich flehe meinen Beschützer an, mich keine Träne vergießen zu lassen, denn ich will das Beste für Athena, und ihr Schicksal ist, weiter voranzuschreiten. Hier in Transsylvanien würde sie außer meiner Liebe nichts weiter finden. Und obwohl ich glaube, daß die Liebe ein ganzes Leben rechtfertigt, bin ich mir vollkommen sicher, daß ich sie nicht bitten darf, ihre Zukunft zu opfern, um an meiner Seite zu bleiben.

Athena küßt mich auf die Stirn und geht, ohne adieu zu sagen. Vielleicht denkt sie, sie würde eines Tages zurückkommen. Seither hat sie mir zu jedem Weihnachtsfest genug Geld fürs ganze Jahr geschickt, damit ich nicht mehr nähen muß. Ich bin nie zur Bank gegangen, um ihre Schecks einzulösen, obwohl mich alle im Stamm deswegen für dumm halten. Zum letzten Weihnachtsfest hat sie mir keinen Scheck mehr geschickt. Sie hat wohl begriffen, daß ich das Nähen brauche, um zu füllen, was sie die »leeren Stellen« nennt.

Obwohl ich sie gern wiedersehen möchte, weiß ich, sie wird nie wieder zurückkommen. Sie wird inzwischen wohl eine große Managerin sein, mit dem Mann verheiratet, den sie liebt. Ich habe wahrscheinlich viele Enkelkinder, mein Blut wird nicht von dieser Erde verschwinden und meine Fehler vergeben werden.

Samira R. Khalil, Hausfrau

Als Sherine unter Freudenschreien ins Haus stürmte, war mir klar, daß alles besser gelaufen war, als ich erwartet hatte. Gott hatte meine Gebete offenbar erhört, und sie mußte nun nichts weiter über sich herausfinden. Nun konnte sie sich in ein normales Leben einfügen, ihren Sohn aufziehen, wieder heiraten und diese Unruhe hinter sich lassen, die sie euphorisch und deprimiert machte.