»Bringe den Menschen bei, anders zu sein. Nur das«, rief ich, während sich das Taxi entfernte.
Das ist Freude. Glück wäre, mit dem zufrieden zu sein, was sie bereits hat – eine Liebe, einen Sohn, eine Arbeit. Doch Athena ist genau wie ich nicht zu so einem Leben geboren.
Heron Ryan, Journalist
Selbstverständlich hätte ich nie zugegeben, daß ich verliebt war. Ich hatte eine Freundin, die mich liebte, mich ergänzte, in guten wie in schlechten Zeiten zu mir hielt.
Alle Begegnungen und Ereignisse in Sibiu waren Teil einer Reise. So etwas war mir schon häufiger passiert, wenn ich fern von zu Hause war: Wenn Menschen ihre gewohnte Welt verlassen, neigen sie dazu, abenteuerlustiger zu werden – Hemmungen und Alltagszwänge sind dann in weiter Ferne.
Zurück in England, erklärte ich als Erstes meinen Produzenten, daß es unsinnig sei, diesen Dokumentarfilm über den historischen Dracula zu machen, da nicht er, sondern das Buch eines verrückten Iren Transsylvanien, das in Wirklichkeit einer der schönsten Flecken der Erde sei, seinen finsteren Ruf eingebracht habe. Die Produzenten waren natürlich keineswegs erfreut, doch ihre Meinung war mir zu jenem Zeitpunkt gleichgültig. Ich gab das Fernsehen auf und begann bei einer der wichtigsten Zeitungen der Welt zu arbeiten.
Damals wurde mir klar, daß ich Athena gern wiedersehen würde.
Ich rief sie an und schlug einen gemeinsamen Spaziergang vor, bevor sie nach Dubai zurückkehrte. Sie war einverstanden, bestand aber darauf, mich durch London zu führen.
Wir stiegen in den erstbesten Bus, uns war egal, wohin er fuhr. Wir suchten eine mitreisende Dame aus und beschlossen, dort auszusteigen, wo sie aussteigen würde. Sie verließ den Bus an der Haltestelle Temple und wir also auch. Wir kamen an einem Bettler vorbei, der Geld von uns haben wollte. Wir gaben ihm nichts, gingen weiter und hörten ihn hinter uns herschimpfen.
Wir sahen jemanden, der versuchte, eine Telefonzelle zu zerstören. Ich überlegte, die Polizei zu rufen, doch Athena hinderte mich daran. Vielleicht war gerade die Liebe seines Lebens zerbrochen, und er mußte seine Gefühle herauslassen. Oder, wer weiß, vielleicht hatte er niemanden, mit dem er reden konnte, und konnte nicht zulassen, daß die anderen ihn dadurch demütigten, daß sie dasselbe Telefon dazu benutzten, um über Liebe – oder Geschäfte – zu sprechen.
Athena bat mich, die Augen zu schließen und genau zu beschreiben, was wir beide anhatten. Zu meiner Überraschung lag ich nur bei wenigen Details richtig.
Sie fragte mich, was auf meinem Schreibtisch lag. Ich sagte, Papiere, die zu ordnen ich zu faul gewesen sei.
»Haben Sie sich einmal vorgestellt, daß diese Papiere ein Leben, Geschichten haben und Gefühle, Wünsche, von denen sie erzählen könnten? Ich glaube, Sie schenken dem Leben nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient.«
Ich versprach ihr, die Papiere auf meinem Schreibtisch genau durchzusehen, wenn ich am nächsten Tag in die Redaktion gehen würde.
Ein Touristenpaar mit einem Stadtplan fragte uns nach dem Weg zu einer bestimmten Sehenswürdigkeit. Athena beschrieb ihn ihnen genau, allerdings vollkommen falsch.
»Sie haben sie in die falsche Richtung geschickt.«
»Das ist egal. Sie werden sich verlaufen, und es gibt nichts Besseres, um interessante Orte zu entdecken. Lassen Sie ein wenig Phantasie in Ihr Leben. Über unseren Köpfen gibt es nur einen einzigen Himmel, über den die gesamte Menschheit aufgrund jahrtausendelanger Beobachtung bereits viel Wissen gesammelt hat. Ich aber werde alle Dinge, die ich über die Sterne gelernt habe, vergessen, und dann werden sie wieder zu Engeln oder zu Kindern oder zu irgendetwas, das ich in diesem Augenblick glauben möchte. Das macht mich nicht dümmer: es ist nur ein Spiel, aber es kann mein Leben bereichern. «
Am nächsten Tag behandelte ich in der Redaktion jedes Papier auf meinem Schreibtisch, als wäre es eine direkt an mich gerichtete Botschaft und nicht ein an meine Zeitung gerichteter Text.
Mittags hatte ich ein Gespräch mit dem Redaktionsleiter. Ich schlug ihm vor, einen Artikel über die Göttin zu schreiben, die von den Zigeunern verehrt wird. Er hielt das für eine ausgezeichnete Idee, und ich bekam den Auftrag, über die Feiern in Les SaintesMaries-de-la Mer, dem Mekka der Zigeuner, zu berichten.
So unglaublich das klingen mag, aber Athena hatte nicht die geringste Lust, mich zu begleiten. Sie sagte, ihr Freund – jener fiktive Inspektor, den sie benutzte, um mich auf Abstand zu halten – wäre nicht damit einverstanden, daß sie mit einem anderen Mann auf Reisen gehe.
»Aber Sie haben doch Ihrer Mutter versprochen, der heiligen Sara einen Umhang zu bringen.«
»Ich habe es versprochen, falls die Stadt auf meinem Weg liegt. Aber das tut sie jetzt nicht. Wenn ich eines Tages dort vorbeikomme, werde ich es tun.«
Vor ihrer Rückkehr nach Dubai am kommenden Sonntag wollte sie mit ihrem Sohn nach Schottland fahren, um die Frau wiederzusehen, die wir in Bukarest getroffen hatten. Ich erinnerte mich nicht ans sie, aber möglicherweise gab es neben diesem Geisterfreund auch eine Geisterfreundin, die als Entschuldigung herhalten mußte, und ich beschloß, nicht nachzufragen. Aber ich war eifersüchtig, weil sie es vorzog, mit anderen Menschen zusammenzusein.
Ich wunderte mich über meine Eifersucht und beschloß, notfalls in den Nahen Osten zu fahren, um sie wiederzusehen. Ich könnte ja einen Artikel über den dortigen Immobilienboom schreiben, von dem jemand im Wirtschaftsressort der Zeitung erzählt hatte. Solange mich das Athena näher brachte, würde ich sogar Abhandlungen über Grundstücke, Wirtschaft, Politik und Erdöl schreiben.
Die Reise nach Les Saintes-Maries-de-la-Mer erbrachte einen ausgezeichneten Artikel. Der Legende zufolge war Sara eine Zigeunerin, die in einer kleinen Stadt am Meer lebte, als Jesu Tante, Maria Salome, mit anderen von den Römern verfolgten Flüchtlingen dort landete. Sara half ihnen und ließ sich am Ende zum Christentum bekehren.
Beim Fest, an dem ich teilnehmen konnte, wurden Teile der Skelette der beiden Frauen, die unter dem Altar begraben liegen, aus einem Reliquiar herausgeholt und emporgehoben, um die vielen Gruppen zu segnen, die mit ihren bunten Kleidern, ihrer Musik und ihren Instrumenten aus allen Ecken Europas gekommen waren. Dann wurde die mit kostbaren Umhängen geschmückte Statue Saras aus der Krypta der Kirche geholt – wo sie stand, da der Vatikan sie nie heiliggesprochen hat – und in einer Prozession durch die mit Rosen bedeckten Gassen ans Meer getragen. Vier Zigeuner in traditionellen Gewändern legten die Reliquien in ein Boot voller Blumen, gingen ins Wasser und stellten die Ankunft der Flüchtlinge und die Begegnung mit Sara nach. Dann folgten Musik, Festivitäten und Gesänge, und als Mutproben für die Männer wurden Stiere durch die Gassen getrieben.
Ein Historiker, Antoine Locadour, hat mir für meinen Artikel interessante Informationen über die weibliche Gottheit geliefert. Diesen für die Reisebeilage geschriebenen Artikel habe ich dann nach Dubai geschickt. Daraufhin erhielt ich nur ein paar freundliche Zeilen, mit denen Athena sich bedankte; weiter schrieb sie nichts.
Wenigstens hatte ich damit eine Bestätigung dafür, daß die Adresse stimmte, die sie mir gegeben hatte.
Antoine Locadour, 74 Jahre alt, Historiker, I.C.P., Frankreich
Es ist einfach, in Sara eine der vielen schwarzen heiligen Jungfrauen zu sehen, die auf der Welt verehrt werden. Sara-la Kâli war der Legende zufolge adliger Herkunft und in den Geheimnissen der Welt bewandert. Meiner Meinung nach ist sie eine der vielen Verkörperungen einer weiblichen Gottheit, die die Große Mutter oder Göttin der Schöpfung genannt wird.