Es überrascht mich übrigens nicht, daß sich immer mehr Menschen für heidnische Traditionen interessieren. Warum sie das tun? Weil mit Gottvater immer die Strenge und die Disziplin des Kultus assoziiert wird. Die Mutter-Gottheit hingegen steht dafür, daß die Liebe wichtiger ist als alle uns bekannten Verbote und Tabus.
Das Phänomen ist nicht neu: Immer wenn die Regeln einer Religion strenger werden, neigt eine große Gruppe von Menschen dazu, in der Verbindung mit dem Spirituellen nach mehr Freiheit zu suchen. So war es auch im Mittelalter, als die katholische Kirche immer höhere Steuern erhob und prächtige Klöster erbauen ließ. Die Reaktion darauf war jenes >Hexerei< genannte Phänomen, das in verschiedenen Traditionen die Jahrhunderte überlebt hat, obwohl es bekämpft und unterdrückt wurde, da die Kirche darin etwas Aufrührerisches sah.
In den heidnischen Traditionen ist die Anbetung der Natur wichtiger als die Verehrung heiliger Bücher. Die Göttin ist in allem, und alles ist Teil der Göttin. Die Welt ist nur ein Ausdruck ihrer Güte. Es gibt viele philosophische Systeme – wie beispielsweise den Taoismus oder den Buddhismus –, die die Vorstellung einer Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschaffenem nicht kennen. Die Menschen versuchen nicht, das Geheimnis des Lebens zu entschlüsseln, sondern wollen Teil desselben sein. Auch im Taoismus und im Buddhismus besagt das zentrale Prinzip – obwohl es darin keine weibliche Gottesfigur gibt –, daß >alles eins ist<.
Im Kultus der Großen Mutter gibt es nicht mehr das, was wir >Sünde< nennen und was gemeinhin eine Übertretung willkürlicher moralischer Gesetze ist. Geschlechtsleben und Bräuche sind freier, da sie Teil der Natur sind und daher nicht als Frucht des Bösen angesehen werden können.
Das neue Heidentum zeigt, daß der Mensch imstande ist, ohne institutionalisierte Religion zu leben, und zugleich seine spirituelle Suche fortsetzen kann, um sein Leben zu rechtfertigen. Wenn Gott die Mutter ist, dann reicht es, sich zu versammeln und sie durch Rituale zu verehren, die ihre weibliche Seele befriedigen, wie Tanz, Feuer, Wasser, Luft, Erde, Gesang, Musik, Blumen, Schönheit.
Diese Tendenz hat in den letzten Jahren ungeheuer zugenommen. Vielleicht befinden wir uns in einem wichtigen Moment der Weltgeschichte, in dem sich endlich der Geist mit der Materie verbindet und beide sich verändern. Zugleich wird es, das nehme ich zumindest an, eine heftige Reaktion der institutionalisierten Religionen geben, die immer mehr Gläubige verlieren. Der Fundamentalismus wird wachsen und sich weltweit ausbreiten.
Als Historiker begnüge ich mich damit, Daten zu sammeln und diesen Gegensatz zwischen den strengen Regeln der institutionalisierten Religionen und den freieren Formen der Anbetung zu analysieren. Den Gegensatz zwischen einem Gott, der die Welt kontrolliert, und der Göttin, die Teil der Welt ist. Den Gegensatz zwischen Menschen, die sich in freien Gruppen versammeln und deren Anbetungsform spontan ist, und jenen, die sich in geschlossenen Kreisen treffen, in denen sie lernen, was sie tun dürfen und was nicht.
Ich würde das gern positiv sehen und darin die Meinung bestätigt finden, daß der Mensch endlich seinen Weg in die spirituelle Welt gefunden hat. Aber die Vorzeichen stimmen nicht gerade optimistisch: Eine neue konservative Welle der Verfolgung könnte, wie schon in der Vergangenheit, den Kult der Mutter wieder ersticken.
Andrea McCain, Theaterschauspielerin
Es ist äußerst schwierig, eine Geschichte neutral zu erzählen, in die man selbst verwickelt ist, die mit Bewunderung begann und im Groll endete. Aber ich werde es versuchen. Ich werde mich ehrlich bemühen, Athena so zu beschreiben, wie ich sie bei unserer ersten Begegnung in der Victoria Street gesehen habe.
Sie war, wie sie mir später erzählt hat, gerade aus Dubai zurückgekehrt und hatte neben einer Menge Geld, das sie dort verdient hatte, den Wunsch mitgebracht, alles, was sie gelernt hatte, mit anderen zu teilen. Dieses Mal sei sie nur vier Monate im Nahen Osten geblieben: Sie habe Grundstücke für den Bau von zwei Supermärkten verkauft und dafür eine enorm hohe Kommission erhalten, die, wie sie sagte, für sie und ihren Sohn zum Leben in den drei kommenden Jahren ausreichen würde. Sie könne diese Arbeit jederzeit wiederaufnehmen, jetzt aber sei der Augenblick gekommen, die Gegenwart zu nutzen, intensiv zu leben, solange sie noch jung sei, und alles, was sie gelernt hatte, anderen beizubringen.
Sie empfing mich eher kühl.
»Was führt Sie zu mir?«
»Ich spiele im Theater, und wir wollen ein Stück über das weibliche Antlitz Gottes aufführen. Ein Freund, der Journalist ist, hat mir erzählt, daß Sie in der Wüste gelebt, eine Zeitlang in den Karpaten bei den Zigeunern verbracht haben und einiges über dieses Thema wissen.«
»Ist das Theaterstück, das Sie aufführen möchten, der einzige Grund, warum Sie hergekommen sind, um etwas über die Große Mutter zu erfahren?«
»Gegenfrage: Was hat Sie dazu gebracht, etwas über sie erfahren zu wollen?«
Athena stutzte, schaute mich von Kopf bis Fuß an und lächelte.
»Sie haben recht. Das hier war meine erste Lektion als Meisterin: Unterrichte den, der lernen will. Der Grund ist gleichgültig.«
»Wie bitte ?« »Ach, nichts.« »Der Ursprung des Theaters ist heilig. Es begann im antiken Griechenland mit Hymnen
an Dionysos, den Gott des Weines, der Wiedergeburt und der Fruchtbarkeit. Man vermutet jedoch, daß die Menschen seit Urzeiten ein Ritual kannten, in dem sie so taten, als seien sie jemand anderes, und so versuchten, mit dem Heiligen in Verbindung zu treten.«
»Zweite Lektion, danke sehr.«
»Ich verstehe Sie nicht. Ich bin hierhergekommen, um etwas zu lernen, nicht um zu lehren.«
Die Frau begann mich zu ärgern. Vielleicht meinte sie das ja ironisch.
»Meine Beschützerin … «
»Beschützerin?«
»… irgendwann erkläre ich es Ihnen. Meine Beschützerin hat gesagt, daß ich das, was ich brauche, nur lerne, wenn ich dazu von außen angestoßen werde. Und seit ich aus Dubai zurückgekehrt bin, sind Sie der erste Mensch, der mir begegnet ist, um mir das zu zeigen. Was meine Beschützerin gesagt hat, ergibt jetzt einen Sinn.«
Ich erklärte ihr, daß ich im Rahmen meiner Vorstudien für das Stück mehrere Meister befragt hätte. Doch an dem, was sie lehrten, sei nichts Besonderes gewesen; allerdings war meine Neugier umso größer geworden, je tiefer ich in das Thema eindrang. Ich sagte ihr auch, ich hätte den Eindruck gewonnen, daß alle Menschen, die mit der Großen Mutter zu tun hatten, überspannt seien und etwas orientierungslos wirkten.
»Inwiefern?«
Was Sex betraf, beispielsweise. In einigen Gruppen, die ich aufgesucht habe, war Sex vollkommen verboten. In andern wiederum herrschte vollkommene sexuelle Freiheit, manchmal kam es sogar zu Orgien. Athena wollte Einzelheiten wissen – mir war nicht klar, ob sie mich ausfragte, um mich zu prüfen, oder weil sie keine Ahnung von dem hatte, was in diesen Gruppen vorging.
Noch bevor ich Athena antworten konnte, fragte sie schon weiter.
»Wenn Sie tanzen, haben Sie dann sinnliche Gefühle? Fühlen Sie dann, daß Sie eine größere Energie herbeirufen? Wenn Sie tanzen, gibt es da Augenblicke, in denen Sie aufhören, Sie selber zu sein?«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Tatsächlich war in den Nachtclubs, den Partys bei Freunden beim Tanzen immer Sinnlichkeit im Spiel gewesen – ich fing an, die Männer zu provozieren, mir gefiel es, in ihren Augen das Begehren zu sehen. Je später es wurde, desto mehr trat ich in Verbindung mit mir selber. Die Tatsache, ob ich jemanden verführte oder nicht, wurde immer nebensächlicher …
Athena fuhr fort. »Der Tanz ist ein Ritual, genau wie das Theater. Außerdem ist er eine uralte Form, sich dem Partner zu nähern. Als würden die Fäden, die uns mit dem Rest der Welt verbinden, von Vorurteilen und Ängsten befreit. Wenn Sie tanzen, können Sie es sich leisten, Sie selbst zu sein.«