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Ich begann ihr mit Respekt zuzuhören.

»Später werden wir dann wieder zu denjenigen, die wir vorher waren. Verstörte Menschen, die vorgeben, wichtiger zu sein, als sie sich selber empfinden.«

Genauso fühlte ich mich auch immer. Oder sollten gar alle das Gleiche erleben?

»Haben Sie einen Freund?«

Mir fiel wieder ein, daß in einer Gruppe, in die ich gegangen war, um die >Tradition der Gaia< zu lernen, einer der >Druiden< gebeten hatte, vor seinen Augen Liebe zu machen. Ich fand es lächerlich und erschreckend – wie konnten diese Leute es wagen, die spirituelle Suche für ihre niedrigsten Triebe zu mißbrauchen?

»Haben Sie einen Freund?«, fragte Athena erneut. »Ja. «

Sie sagte nichts weiter. Sie legte nur die Hand an die Lippen, daß ich schweigen solle.

Und plötzlich wurde mir bewußt, daß es unheimlich schwierig war, schweigend neben jemandem zu sitzen, den man gerade erst kennengelernt hatte. Man neigt dann dazu, über irgendetwas zu reden, egal, was – das Wetter, Probleme mit dem Verkehr, die besten Restaurants. Wir saßen beide auf dem Sofa ihres vollkommen weißen Wohnzimmers, in dem es einen CD-Player und ein kleines CD-Regal gab. Es gab weder irgendwo Bücher noch Bilder an den Wänden. Da sie viel gereist war, hatte ich Gegenstände und Souvenirs aus dem Nahen Osten erwartet.

Aber es war alles leer, und dazu kam jetzt noch die Stille.

Athenas graue Augen starrten mich an, aber ich hielt ihrem Blick stand und wandte mich nicht ab. Vielleicht war es eine instinktive Reaktion, um klarzustellen, daß ich keine Angst hatte, sondern der Herausforderung ins Gesicht blickte. Nur wurden die Situation, das Schweigen, das weiße Zimmer und der Verkehrslärm draußen allmählich unwirklich. Wie lange noch würden wir dasitzen und nichts sagen?

Ich begann meinen Gedanken nachzuhängen. War ich nur auf der Suche nach Material für mein Stück zu Athena gekommen, oder ging es mir wirklich um die Kenntnisse, das Wissen, die … Kräfte? Mir war nicht klar, was mich dazu gebracht hatte, zu einer …

Zu einer was? Zu einer Hexe zu gehen?

Träume aus meiner Jugend fielen mir wieder ein: Wer wollte damals nicht gern einer echten Hexe begegnen, wer wollte nicht Magie lernen, von den Freundinnen voller Respekt und Furcht angesehen werden? Wer hatte sich nicht als Heranwachsende mit der Tausende Jahre dauernden Unterdrückung der Frau beschäftigt?

Dieser Phase war ich zwar längst entwachsen, ich tat, was ich wollte, und behauptete mich in einem so schwierigen Feld wie dem Theater – aber warum war ich dann nie zufrieden? Warum suchte ich immer wieder… neue Herausforderungen?

Wir waren etwa gleich alt … oder war ich sogar älter? Jetzt trennte uns weniger als eine Armeslänge, und mir wurde etwas mulmig. War sie womöglich lesbisch?

Ich wußte, ohne den Blick zu wenden, wo die Tür war, und würde jederzeit gehen können. Niemand hatte mich gezwungen, in diese Wohnung zu kommen, jemanden zu treffen, den ich nie zuvor gesehen hatte, und dort Zeit zu verplempern, nichts zu sagen und überhaupt nichts dazuzulernen. Worauf wollte sie hinaus?

Ging es ihr um das Schweigen? Meine Muskeln verkrampften sich allmählich. Ich fühlte mich allein, schutzlos. Ich hatte den verzweifelten Wunsch zu sprechen, oder ich mußte unbedingt meinen Geist davon abbringen, mir ständig zu sagen, daß alles mich bedrohte. Wie sollte ich wissen, wer ich war? Wir sind, was wir sagen!

Sie hatte mich nicht über mein Leben ausgefragt. Sie hatte lediglich wissen wollen, ob ich einen Freund habe. Ich versuchte mehr über das Theater zu sagen, aber ich brachte keinen Ton heraus. Nur zu gern hätte ich von ihr erfahren, was an den Geschichten über ihre Zigeunerabstammung dran war, über das, was in Transsylvanien, dem Land der Vampire, geschehen war.

Die Gedanken rissen nicht ab. Wie viel würde mich die Beratung kosten? Ich erschrak. Das hätte ich vorher fragen sollen. Vielleicht ein kleines Vermögen? Und wenn ich nicht zahlen würde, würde sie mich dann mit einem Zauber belegen, der mich am Ende zerstörte?

Ich wollte aufstehen, mich bedanken und sagen, daß ich nicht gekommen sei, um zu schweigen. Wenn man zu einem Psychiater geht, muß man reden. Wenn man in eine Kirche geht, hört man eine Predigt. Wenn man Magie sucht, trifft man auf einen Meister, der einem die Welt erklären möchte und einem eine Reihe von Ritualen an die Hand gibt. Aber Schweigen? Und warum störte mich das dermaßen?

Eine Frage ergab die andere – meine Gedanken überstürzten sich. Ich hätte gern gewußt, wozu es gut war, daß wir beide dasaßen und nichts sagten. Plötzlich, nach endlosen Minu­ten, in denen weiterhin nichts geschehen war, lächelte sie.

Ich lächelte auch und entspannte mich.

»Versuchen Sie, anders zu sein. Nur das.«

»Nur das? Bedeutet Schweigen, anders zu sein? Ich stelle mir vor, daß in diesem Augenblick Tausende von Seelen in London verrückt danach sind, mit jemandem zu sprechen, und Sie sagen mir jetzt, daß das Schweigen den Unterschied ausmacht?«

»Jetzt, wo Sie sprechen und das Universum neu ordnen, werden Sie am Ende davon überzeugt sein, daß Sie recht haben und ich unrecht. Aber eines haben Sie gesehen: Schweigen ist anders.«

»Es ist unangenehm. Es bringt einem nichts bei.« Meine Bemerkung schien sie nicht zu kümmern. »An welchem Theater arbeiten Sie?«

Endlich fing sie an, sich für mein Leben zu interessieren! Ich wurde wieder ein Mensch mit einem Beruf und allem, was noch dazugehört! Ich lud sie zu einer Aufführung des Stückes ein, das gerade auf dem Spielplan stand – nur so konnte ich mich rächen, nämlich indem ich Athena zeigte, daß ich etwas konnte, was sie nicht konnte. Dieses Schweigen hatte ein Gefühl von Demütigung in mir hinterlassen.

Sie fragte, ob sie ihren Sohn mitbringen dürfe. Ich verneinte, das Stück sei etwas für Erwachsene.

»Na gut, ich kann ihn bei meiner Mutter lassen. Ich bin ewig lang nicht mehr im Theater gewesen.«

Sie verlangte nichts für die Beratung. Als ich die andern Mitglieder meines Ensembles wiedersah, erzählte ich ihnen von meiner Begegnung mit diesem geheimnisvollen Wesen. Meine Kollegen waren wahnsinnig neugierig darauf, Athena kennenzulernen, die jemanden bei einem ersten Treffen nur darum gebeten hatte zu schweigen.

Wie versprochen, erschien Athena zu der Aufführung. Sie sah sich das Stück an, und anschließend kam sie in die Garderobe, um mich zu begrüßen. Sie sagte nicht, ob es ihr gefallen hatte. Meine Kollegen schlugen vor, sie in die Bar einzuladen, in die wir immer nach der Vorstellung gingen. Anstatt zu schweigen, begann sie dort gleich über eine Frage zu sprechen, die bei unserer ersten Begegnung ohne Antwort geblieben war.

»Niemand, nicht einmal die Große Mutter, würde es je wollen, daß Sexualität nur in rituellem Rahmen ausgelebt wird. Es muß immer Liebe dabei sein. Sie haben mir erzählt, daß Sie solche Leute getroffen haben. Seien Sie vorsichtig.«

Meine Kollegen verstanden überhaupt nichts, aber ihnen gefiel das Thema, und sie begannen, Athena mit Fragen zu bombardieren. Etwas störte mich: Athenas Antworten waren sehr technisch, als hätte sie in dem Bereich, über den sie sprach, nicht viel Erfahrung. Sie erzählte etwas vom Spiel der Verführung, über Fruchtbarkeitsrituale und schloß mit einer griechischen Sage – wahrscheinlich, weil ich bei unserer ersten Begegnung erzählt hatte, daß die Ursprünge des Theaters im antiken Griechenland liegen. Sie wird daraufhin die ganze Woche damit verbracht haben, etwas über das Thema zu lesen.

»Nach Jahrhunderten männlicher Herrschaft kehren wir zum Kult der Großen Mutter zurück. Die Griechen nannten sie Gaia, und der Mythos besagt, daß sie zusammen mit Eros, dem Gott der Liebe, aus dem Chaos geboren wurde, der Leere, die vorher im Universum herrschte. Und Gaia brachte das Meer und den Himmel hervor.«

»Wer war der Vater?«, fragte einer meiner Freunde.