»Athena …« Ich zögerte, aber es gelang mir, den Satz zu Ende zu bringen, obwohl ich etwas anderes hatte sagen wollen. » … vielleicht sollten wir etwas zu essen bestellen.«
Ich merkte, daß ich noch nicht bereit war, über Dinge zu sprechen, die meine Welt durcheinanderbrachten. Ich rief den Kellner, bestellte Vorspeisen, dann noch mehr Vorspeisen, ein Hauptgericht, einen Nachtisch und eine weitere Flasche Rotwein. Je länger das Abendessen dauern würde, umso besser.
»Sie sind eigenartig. Liegt es etwa an dem, was ich über Bücher gesagt habe? Ach, machen Sie, was Sie wollen, ich bin nicht hier, um Ihre Welt zu verändern. Wenn ich nicht aufpasse, gebe ich Ihnen noch ungefragt Ratschläge.«
Meine Welt verändern – wenige Augenblicke zuvor hatte ich genau daran gedacht.
»Athena, Sie erzählen mir immer… also, ich möchte über etwas sprechen, was in dieser Bar in Sibiu passiert ist, mit der Zigeunermusik …«
»Im Restaurant, wollten Sie sagen.«
»Ja, im Restaurant. Vorhin haben wir über Bücher geredet, über Dinge, die sich anhäufen und Platz brauchen. Vielleicht haben Sie ja recht. Es gibt etwas, das ich Ihnen, seit ich Sie an jenem Tag habe tanzen sehen, geben möchte. Das lastet immer mehr auf meinem Herzen.«
»Ich weiß nicht, worüber Sie reden.«
»Selbstverständlich wissen Sie es. Ich meine eine Liebe, die ich ganz allmählich in mir entdecke und die ich mit allen Mitteln zu zerstören versuche, bevor sie sich ganz offenbart. Ich möchte sie Ihnen geben. Es ist etwas von mir, das ich aber nicht besitze. Meine Liebe gehört nicht allein Ihnen, denn es gibt jemanden in meinem Leben, aber ich wäre glücklich, wenn Sie sie trotzdem annehmen.
Ein libanesischer Dichter, Khalil Gibran, hat einmal gesagt: >Es ist gut zu geben, wenn jemand darum bittet, aber es ist noch besser, jemandem, der um nichts gebeten hat, alles geben zu können.<wenn ich nicht gesagt hätte, was ich ihnen gerade gesagt habe, wäre ich nur ein Zuschauer dessen, was passiert – aber ich wäre nicht derjenige, der es erlebt.«
Ich atmete tief ein: Der Wein hatte mich lockerer gemacht.
Athena trank ihr Glas ganz aus, und ich tat es ihr nach. Der Kellner kam mit den Speisen, kommentierte die Gerichte, erklärte uns die Zutaten und die Zubereitungsweise. Wir blickten einander starr in die Augen. Andrea hatte mir erzählt, daß Athena das gemacht habe, als sie sich zum ersten Mal getroffen hatten, und sie war überzeugt gewesen, daß Athena sie damit hatte einschüchtern wollen.
Das Schweigen war schrecklich. Ich stellte mir schon vor, daß sie aufstehen und von ihrem angeblichen Freund bei Scotland Yard reden oder sagen würde, daß sie sich zwar sehr geschmeichelt fühle, jetzt aber gehen wolle, weil sie sich noch auf den nächsten Tag vorbereiten müsse.
»Aber gibt es überhaupt etwas, das man behalten könnte? Alles, was wir besitzen, wird eines Tages weggegeben. Die Bäume geben, um weiterleben zu können, denn behalten hieße, ihrem Leben ein Ende zu bereiten.«
Obwohl ihre Stimme leise und wegen des Weins etwas langsam war, brachte sie alle um uns herum zum Schweigen.
»Doch das größte Verdienst gehört nicht dem Gebenden, sondern dem Empfänger, der etwas annimmt, ohne sich als Schuldner zu fühlen. Der Mensch gibt wenig, wenn er nur über die materiellen Güter verfügt, die er besitzt. Aber er gibt viel, wenn er sich selber gibt.«
Sie sagte das alles, ohne zu lächeln. Ich hatte das Gefühl einer Sphinx gegenüberzusitzen.
»Diese Sätze sind ebenfalls von dem Dichter, den Sie zitiert haben. Ich habe sie in der Schule gelernt, aber ich brauche das Buch nicht, in dem sie stehen. Ich habe die Worte in meinem Herzen bewahrt.«
Sie trank noch ein wenig. Ich ebenfalls. Ich konnte sie jetzt schlecht fragen, ob sie akzeptierte oder nicht. Aber ich fühlte mich leichter.
»Vielleicht haben Sie ja recht. Ich werde meine Bücher einer öffentlichen Bibliothek schenken und nur ein paar behalten, die ich ganz bestimmt wieder lesen möchte.«
»Möchten Sie jetzt wirklich darüber reden?«
»Nein. Ich weiß nur nicht, wie ich das Gespräch weiterführen soll.«
»Nun, dann lassen Sie uns einfach essen und die Speisen genießen. Das ist doch eine gute Idee, nicht wahr?«
Nein, das war keine gute Idee. Ich wollte etwas anderes hören. Aber ich hatte Angst zu fragen, daher redete ich weiter über Bibliotheken, über Bücher, über Dichter. Ich redete zwanghaft, während es mir leid tat, daß ich so viele Speisen bestellt hatte – jetzt war ich es, der am liebsten hinausgerannt wäre, weil ich nicht wußte, wie ich mich weiter verhalten sollte.
Am Ende mußte ich ihr versprechen, sie ins Theater zu begleiten und an ihrer ersten Unterrichtsstunde teilzunehmen. Ich wertete das als Zeichen, daß sie mich brauchte, daß sie das Geschenk annahm, das ich ihr machen wollte, seit ich sie in einem Restaurant in Transsylvanien hatte tanzen sehen. Damals war dieser Wunsch noch unbewußt gewesen, erst an diesem Abend war ich imstande, ihn ganz zu begreifen.
Oder zu glauben, wie Athena sagen würde.
Andrea McCain, Schauspielerin
Selbstverständlich war es meine Schuld. Hätte ich sie nicht darum gebeten, wäre Athena niemals an jenem Morgen im Theater erschienen. Sie forderte uns auf, uns auf den Bühnenboden zu legen, uns vollkommen zu entspannen und gleichzeitig unseren Atem und jeden einzelnen Körperteil bewußt wahrzunehmen.
»Entspannen Sie jetzt die Schenkel …«
Wir gehorchten alle, als hätten wir eine Göttin vor uns, jemanden, der mehr wußte als wir alle zusammen, obwohl wir diese Art Übung vorher schon Hunderte von Malen gemacht hatten. Wir waren alle neugierig, was dann kommen würde.
»… nun entspannen Sie das Gesicht, atmen Sie tief ein.«
Glaubte sie wirklich, sie würde uns etwas Neues beibringen? Wir hatten einen Vortrag, eine Vorlesung erwartet! – Ich darf mich jetzt nicht aufregen, kehren wir also in die Vergangenheit zurück! – Wir entspannten uns, und dann kam dieses Schweigen, das uns vollkommen durcheinanderbrachte. Als ich später mit meinen Kollegen darüber sprach, bestätigten sie, daß sie das Gefühl gehabt hätten, die Übung sei nun zu Ende, man könne sich wieder hinsetzen, sich umschauen, aber niemand tat es. Wir alle blieben endlose fünfzehn Minuten in einer Art erzwungenen Meditation liegen.
Dann kam wieder ihre Stimme:
»Sie hatten genug Zeit, um an mir zu zweifeln. Der eine oder andere hat Ungeduld gezeigt. Aber jetzt werde ich nur noch um eines bitten: Wenn ich bis drei gezählt habe, stehen Sie bitte auf und seien Sie anders. – Ich sage nicht, seien Sie jemand anderes, ein Tier, ein Haus. Vermeiden Sie das anzuwenden, was Sie in Schauspielkursen gelernt haben – ich bitte Sie hier nicht darum, als Schauspieler zu agieren und Ihre Fähigkeiten zu zeigen. Ich will, daß Sie aufhören, Sie selber zu sein, und sich in etwas Unbekanntes verwandeln.«
Wir hatten die Augen geschlossen, lagen auf dem Boden, und niemand wußte, wie der andere reagieren würde. Athena spielte mit dieser Ungewißheit.
»Ich werde ein paar Worte sagen, und Sie werden Bilder zu diesen Begriffen assoziieren. Vergessen Sie nicht, daß Sie von Vorurteilen vergiftet sind und sich, wenn ich >Schicksal< sage, wahrscheinlich die Zukunft Ihres Lebens vorstellen werden. Wenn ich >Rot< sage, womöglich mit psychoanalytischen Interpretationen beginnen. Das will ich nicht. Ich will, wie ich bereits gesagt habe, daß Sie anders sind.«
Sie konnte nicht einmal richtig erklären, was sie wollte. Da niemand sich beschwerte, war ich mir sicher, daß alle einfach nur höflich sein wollten, keiner aber Athena ein zweites Mal einladen würde. Und mir würden sie anschließend vorwerfen, ich sei naiv gewesen, sie überhaupt eingeladen zu haben.
»Dies ist das erste Wort: heilig.«
Um mich nicht zu langweilen, spielte ich mit: Ich stelle mir meine Mutter, meinen Freund, meine zukünftigen Kinder, eine brillante Karriere vor.