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»Ich habe zu dem, was heute im Theater passiert ist, ein paar Nachforschungen angestellt. Du hast es nicht mitbekommen, aber ich hatte während der Übungen die ganze Zeit die Augen offen.«

»Du hältst immer die Augen offen. Ich glaube, das gehört zu deinem Beruf. Und du wirst mir erzählen, daß sich alle gleich verhalten haben. Wir haben nach den Proben, in der Bar, lange darüber gesprochen.«

»Ein Historiker hat mir gesagt, daß es im Apollotempel in Delphi, in dem die Zukunft vorausgesagt wurde, einen Marmorstein gab, der >Omphalos<, Erdnabel, genannt wurde. Berichte aus dem antiken Griechenland besagen, daß dort das Zentrum der Welt war. Ich habe noch ein paar weitere Nachforschungen angestellt: In Petra, in Jordanien, gibt es einen weiteren >konischen Nabel<, der nicht nur den Mittelpunkt des Planeten symbolisiert, sondern den des gesamten Universums. Sowohl der Nabel von Delphi als auch der von Petra versuchten jene Achse sichtbar zu machen, durch die die Energie der Welt fließt, indem sie sichtbar machten, was sich nur auf der, sagen wir mal, >unsichtbaren Ebene< offenbarte. Auch Jerusalem wird >Nabel der Welt< genannt, ebenso eine Insel im Pazifischen Ozean und ein weiterer Ort, den ich vergessen habe – weil ich ihn niemals damit in Verbindung gebracht habe.«

»Der Tanz.«

»Wie bitte?«

»Ach nichts.«

»Ich denke, ich weiß, was du sagen wolltest: die orientalischen Bauchtänze, die ältesten bekannten Tänze, in denen alles um den Bauchnabel kreist. Ich wollte das nicht erwähnen, weil ich dir erzählt habe, daß ich Athena in Transsylvanien tanzen gesehen habe. Sie war bekleidet, allerdings …«

»… begann die Bewegung am Bauchnabel und breitete sich dann über den Rest des Körpers aus.«

Sie hatte recht.

Ich wechselte schnell das Thema, redete über meinen Tag in der Redaktion, wir tranken ein wenig und landeten schließlich im Bett, während es anfing zu regnen. Ich bemerkte, daß Andreas Körper im Augenblick des Orgasmus um den Bauchnabel kreiste – ich hatte das schon Hunderte von Malen miterlebt, aber nie darauf geachtet.

Antoine Locadour, Kulturhistoriker

Die Telefonate, in denen er mich bat, das Material bis zum Ende der Woche zu beschaffen, müssen Heron ein Vermögen gekostet haben. Er ließ nicht locker wegen dieser Geschichte mit dem Bauchnabel, die ich vollkommen uninteressant und unromantisch fand. Aber die Engländer sehen nun mal die Dinge anders als die Franzosen, und anstatt Fragen zu stellen, habe ich nachgeforscht, was die Wissenschaft dazu sagt.

Wenn es um Monumente oder Dolmen ging, konnte ich sie historisch einordnen. Aber Herons Fragen überschritten meinen Wissenshorizont. Diesbezüglich schienen die alten Kulturen ausnahmsweise mal einer Meinung zu sein. Sie benutzten dasselbe Wort, um die Orte zu bezeichnen, die sie für heilig hielten. Das war mir bislang nicht aufgefallen, und das Thema begann mich zu interessieren. Als ich die vielen Übereinstimmungen sah, machte ich mich auf die Suche nach dem alles verbindenden roten Faden: das Verhalten des Menschen und sein Glaube.

Die erste und logischste Erklärung verwarf ich sofort wieder: Wir werden durch die Nabelschnur ernährt, sie ist der Mittelpunkt der Erde. Ein befreundeter Psychologe, den ich darauf ansprach, sagte mir sofort, diese Theorie ergäbe überhaupt keinen Sinn. Die in der ersten Phase des Lebens im Mittelpunkt stehende Nabelschnur werde nach der Geburt durchtrennt, und das Gehirn und das Herz träten dann als Mittelpunkt an ihre Stelle.

Wenn uns etwas interessiert, scheint sich alles, was uns umgibt, darauf zu beziehen. (Die Mystiker nennen das >Zeichen<, die Skeptiker >Zufälle< und die Psychologen >Fokus<. Die Definition der Historiker dazu steht allerdings noch aus. Die müßte ich noch finden.) Eines Abends ist meine heranwachsende Tochter mit einem Piercing im Bauchnabel nach Hause gekommen.

»Warum hast du das getan?«

»Weil ich Lust dazu hatte.«

Eine absolut glaubhafte Erklärung, auch für einen Historiker, der für alles eine Ursache finden muß. Als ich in ihr Zimmer kam, fiel mein Blick auf das Poster ihrer Lieblingssängerin: Der Bauch war nackt, und der Bauchnabel schien, auch auf diesem Foto an der Wand, der Mittelpunkt der Welt zu sein.

In einem seiner Anrufe hatte mir Heron erzählt, was im Theater passiert war, wie die Leute spontan und unerwartet auf die gleiche Weise reagiert hatten. Aus meiner Tochter war nichts weiter herauszubekommen, also beschloß ich, Fachleute zu befragen.

Niemand schien der Frage besondere Beachtung zu schenken, bis auf meinen Freund Frafflis Shepka, einen indischen Psychologen, der revolutionär neue Therapiekonzepte entwickelte. Ihm zufolge brachte es nichts, die Patienten in ihre Kindheit zurückzuführen, um Traumata zu lösen. Viele Probleme, die das Leben gelöst hatte, würden so nur wiederbelebt werden, und die Menschen würden ihren Eltern die Schuld an ihrem Scheitern und ihren Niederlagen geben. Shepka befand sich im Krieg mit den psychoanalytischen Gesellschaften Frankreichs, und ein Gespräch über ein albernes Thema – wie den Bauchnabel – schien für ihn eine entspannende Abwechslung zu sein.

Ich traf mich mit Shepka, der von dem Thema angetan war, aber nicht gleich zur Sache kam. In einem langen Gespräch gab er mir folgende Informationen: Einem der am meisten geachteten Psychoanalytiker der Geschichte, dem Schweizer Carl Gustav Jung, zufolge trinken wir alle aus derselben Quelle. Sie heißt >Weltenseele<. Auch wenn wir immer versuchen, unabhängige Individuen zu sein, ist uns ein Teil der Erinnerung gemeinsam. Alle suchen das Ideal der Schönheit, des Tanzes, der Gottheit, der Musik.

Die Gesellschaft hingegen macht es sich zur Aufgabe, zu definieren, wie sich diese Ideale auf der realen Ebene manifestieren. So ist heutzutage das Schönheitsideal, dünn zu sein, während vor Tausenden von Jahren die Göttinnen auf den Bildnissen dick waren. Ähnlich verhält es sich mit dem Glück: Unser Unbewußtes sorgt durch eine Reihe von Regeln, daß wir uns das Glück versagen.

Jung teilte die Entwicklung des Individuums in vier Etappen auf: Die erste war die Persona – die Maske, die wir täglich tragen, indem wir vorgeben, der zu sein, der wir sind.

Wir glauben, daß die Welt von uns abhängt, daß wir großartige Eltern sind und unsere Kinder uns nicht verstehen, daß unsere Chefs ungerecht sind, daß der Traum des Menschen darin besteht, nie zu arbeiten und das ganze Leben lang zu reisen. Viele Menschen bemerken, daß an dieser Geschichte etwas nicht stimmt. Aber da sie nichts ändern wollen, schlagen sie sich solche Gedanken bald wieder aus dem Kopf. Nur wenige versuchen herauszubekommen, was nicht stimmt, und finden am Ende den Schatten.

Der Schatten ist unsere dunkle Seite, die unser Handeln und unser Verhalten diktiert. Wenn wir versuchen, uns von der Persona zu befreien, zünden wir ein Licht in uns an und sehen die Spinnweben, die Feigheit, die Engherzigkeit. Der Schatten ist da, um unsere Weiterentwicklung zu verhindern – und normalerweise gelingt es ihm. Wir kehren eilig zu dem zurück, was wir waren, bevor wir anfingen zu zweifeln. Allerdings gelangen einige nach dem Zusammenstoß mit ihren Spinnweben zu einem Entschluß und sagen: »Ja, ich habe eine ganze Reihe Fehler, aber ich bin würdig, ich will weiterkommen.«

In diesem Augenblick verschwindet der Schatten, und wir treten in Verbindung mit der Seele.

Das Wort Seele ist bei Jung nicht religiös belegt. Er spricht von der Rückkehr zur Weltenseele, der Quelle des Wissens. Die Instinkte schärfen sich, die Gefühle sind radikal, die Zeichen des Lebens sind wichtiger als die Logik, die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist nicht mehr so starr.

Wir haben Umgang mit Dingen, an die wir nicht gewöhnt sind, reagieren für uns selber überraschend.