Aber mach dir nichts daraus. Bald wird es >Weisheit< genannt werden. Blick in den Spiegeclass="underline" Wen siehst du da?«
»Eine Frau.«
»Und was noch?«
Sie zögerte etwas. Ich ließ nicht locker, und sie antwortete schließlich:
»Noch eine Frau. Aber die wahrhaftiger, klüger ist als ich. Als wäre es eine Seele, die mir nicht gehört, aber Teil von mir ist.«
»Genau. Jetzt werde ich dich bitten, dir eines der wichtigsten Symbole der Alchimie vorzustellen: eine Schlange, die einen Kreis bildet und ihren eigenen Schwanz verschlingt. Kannst du dir das vorstellen?«
Sie nickte.
»So ist das Leben von Menschen, die so sind wie du und ich. Sie zerstören und bauen die ganze Zeit. Alles in ihrem Leben verläuft so: vom Verlassenwerden zur Begegnung, von der Scheidung zu einer neuen Liebe, von der Bankfiliale in die Wüste. Nur eines bleibt in deinem Leben unverändert: dein Sohn. Er ist der rote Faden in allem, respektiere das.«
Sie fing wieder an zu weinen. Aber es waren andere Tränen.
»Du bist hierhergekommen, weil du das Gesicht einer Frau in den Flammen gesehen hast. Laß dich nicht von dem bedrücken, was andere denken, denn in ein paar Jahren oder ein paar Jahrzehnten oder in ein paar Jahrhunderten wird sich das Denken geändert haben. Lebe jetzt, was die anderen Menschen erst in der Zukunft leben werden.
Was willst du? Du kannst nicht einfach nur glücklich sein wollen, denn das ist leicht und langweilig. Du kannst nicht nur einfach lieben wollen, weil das unmöglich ist. Was willst du? Du willst dein Leben rechtfertigen? Dann lebe es so intensiv wie möglich. Das ist zugleich eine Falle und Ekstase.
Versuche auf die Gefahr zu achten, und lebe die Freude, das Abenteuer, die Frau zu sein, die hinter dem Bild verborgen ist, das dir der Spiegel zeigt.«
Ihre Augen schlossen sich, aber ich wußte, daß meine Worte in ihre Seele eingedrungen waren und dort wirken würden.
»Wenn du das Wagnis eingehen willst, weiter zu unterrichten, dann tue es. Willst du es nicht, dann möchte ich dir an dieser Stelle sagen, daß du schon viel weiter gegangen bist als die meisten Menschen.«
Athenas Körper entspannte sich. Ich legte den Arm um sie, und sie schlief an mich gelehnt ein.
Ich flüsterte ihr ein paar tröstende Worte ins Ohr, denn ich hatte diese Phasen selber durchgemacht und wußte, wie schwer es war. Mein Beschützer hatte mir erklärt, wie diese Phasen verliefen, und genau so hatte ich es am eigenen Leibe erfahren. Von der Anspannung zur Entspannung. Von der Entspannung in die Trance. Von der Trance zum intensiveren Kontakt mit den Menschen. Von diesem Kontakt ausgehend wieder zur Anspannung und so fort, wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt.
Das war nicht einfach – vor allem, weil es bedingungslose Liebe verlangte, die weder das Leiden, die Ablehnung noch den Verlust fürchtet.
Aber wer seinen Durst erst einmal mit diesem Wasser gelöscht hat, dem wird es unmöglich sein, aus anderen Quellen zu trinken.
Andrea McCain, Schauspielerin
Ich hatte Athena angerufen und ihr gesagt, daß ich sie gern treffen würde, und da lud sie mich ein, mit ihr zum Winterschlußverkauf in einem großen Kaufhaus an der Knightsbridge zu gehen. Mir wäre es lieber gewesen, wenn wir zusammen einen Tee getrunken oder in einem ruhigen Restaurant etwas gegessen hätten.
»Neulich hast du von Gaia gesprochen, die sich selbst geschaffen hat, einen Sohn bekam, aber keinen Mann dazu brauchte. Du hast zu Recht gesagt, daß die Große Mutter ihren Platz am Ende den männlichen Gottheiten überließ. Aber du hast Hera vergessen, die übrigens von deiner Lieblingsgöttin abstammt. Hera ist wichtiger, denn sie ist pragmatischer. Sie beherrschte den Himmel und die Erde, die Jahreszeiten und die Stürme. Ebenfalls den Griechen zufolge, die du zitiert hast, besteht die Milchstraße, die wir am Himmel sehen, aus Milch, die aus ihrer Brust geflossen ist. Sie muß, nebenbei gesagt, sehr schöne Brüste gehabt haben, denn der allmächtige Zeus hat sich eigens in einen Vogel verwandelt, um Hera lieben zu können, ohne abgewiesen zu werden.«
Wir gingen während des Gesprächs durch das Kaufhaus. Athena hatte ihren Sohn mitgebracht.
»Viorel könnte in dieser Menschenmenge verlorengehen.«
»Keine Angst. Das wird er schon nicht. Erzähl weiter.«
»Hera hat den Trick bemerkt und Zeus gezwungen, sie zu heiraten. Doch gleich nach der Eheschließung hat der große König des Olymps sein Playboyleben wiederaufgenommen und alle Göttinnen und Menschenfrauen verführt, denen er begegnete. Hera dagegen blieb ihm treu, sie meinte sogar, anstatt die Schuld bei ihrem Mann zu suchen, die Frauen müßten sich besser benehmen.«
»Tun wir das nicht alle?«
Ich wußte nicht, worauf Athena hinauswollte, daher fuhr ich fort, als hätte ich nicht gehört, was sie gesagt hatte.
»Bis es Hera zu viel wurde und sie beschloß, es Zeus mit gleicher Münze heimzuzahlen und einen Gott oder einen Mann zu finden und ihn mit in ihr Bett zu nehmen. – Könnten wir uns nicht irgendwohin setzen und einen Kaffee trinken?«
Wir waren inzwischen in der Dessousabteilung angekommen.
»Ist das nicht hübsch?«, fragte sie mich, ohne auf meine Bitte einzugehen, und hielt ein aufreizendes hautfarbenes Set aus BH und Höschen hoch.
»Sehr. Wird es dann jemand sehen, wenn du es trägst?«
»Aber klar doch, glaubst du, ich sei eine Heilige? Aber erzähl weiter von Hera.«
»Zeus war über Heras Verhalten erschrocken. Aber jetzt, wo sie bereits so weit gegangen waren, kümmerte sie sich weniger um ihre Ehe. – Hast du tatsächlich einen Freund?«
Athena blickte um sich. Erst als sie sich versichert hatte, daß Viorel sie nicht hören konnte, antwortete sie knapp: »Ja, habe ich.«
»Wieso habe ich ihn noch nie gesehen?«
Sie ging zur Kasse, zahlte die Wäsche und steckte sie in die Handtasche.
»Erzähl schnell noch die Geschichte von Hera zu Ende. Viorel wird ungeduldig. Ich glaube, er hat Hunger, und außerdem interessieren ihn griechische Sagen überhaupt nicht.«
»Das Ende ist etwas verrückt: Aus Angst, seine Liebste zu verlieren, tat Zeus so, als habe er vor, ein zweites Mal zu heiraten. Als Hera davon erfuhr, begriff sie, daß sie zu weit gegangen war – sie akzeptierte die Geliebten ihres Mannes, eine Trennung kam für sie nicht in Frage.«
»Nicht besonders originell.«
»Hera beschloß, um Zeus einen Streich zu spielen, sich an den Ort zu begeben, an dem die Hochzeit stattfinden sollte. Die Zeremonie hatte bereits begonnen, da mußte Zeus feststellen, daß er um die Hand einer Statue angehalten hatte.«
»Was hat Hera getan?«
»Sie hat gelacht. Das hat das Eis zwischen den beiden gebrochen, sie wurde wieder zur Herrin des Olymps.«
»Großartig. Und wenn dir das eines Tages passiert…?«
»Wie bitte ?«
»Wenn dein Mann eine andere Frau hat, dann vergiß nicht zu lachen.«
»Ich bin keine Göttin. Ich würde ihn nicht so davonkommen lassen. Warum bekommt man übrigens deinen Freund nie zu Gesicht?«
»Weil er immer viel zu tun hat.«
»Wo hast du ihn kennengelernt?«
Sie blieb stehen.
»Ich habe ihn in der Bank kennengelernt, in der ich damals arbeitete, er hatte dort ein Konto. Und jetzt entschuldige mich bitte: Viorel will nach Hause. Außerdem hast du recht, er könnte sich in der Menschenmenge verlieren, wenn ich nicht richtig aufpasse. Nächste Woche gibt es bei mir zu Hause ein Treffen. Du bist natürlich eingeladen.«
»Ich weiß, wer es organisiert hat.«
Athena gab mir zwei verlogene Wangenküsse und ging. Zumindest hatte sie meine Botschaft verstanden.