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Da jeder der Interviewten glaubte, über die einzige, endgültige Version der jeweiligen Ereignisse zu verfügen, egal, wie unbedeutend sie waren, willigten sie am Ende ein. Während der Tonbandaufnahmen merkte ich, daß die Dinge nicht absolut sind, daß jeder eine eigene Sicht auf die Dinge hat. Und daß die beste Art zu erfahren, wer wir sind, häufig ist, herauszufinden, wie die anderen uns sehen.

Das soll nicht heißen, daß wir tun, was die anderen erwarten: Aber zumindest verstehen wir uns selber besser. Das war ich Athena schuldig.

Ihre Geschichte zu rekonstruieren, den Mythos Athena festzuhalten.

Samira R. Khalil, 57 Jahre, Hausfrau, Athenas Mutter

Nennen Sie sie bitte nicht Athena. Ihr richtiger Name ist Sherine. Sherine Khalil, unsere geliebte, heißersehnte Tochter, von der wir wünschten, sie wäre unsere leibliche Tochter gewesen.

Aber das Leben hatte andere Pläne – wenn das Schicksal großzügig ist, gibt es immer einen Brunnen, in den unsere Träume hineinfallen.

Wir lebten in einer Zeit in Beirut, als Beirut noch als schönste Stadt im Nahen Osten galt.

Mein Mann war ein erfolgreicher Industrieller, wir haben aus Liebe geheiratet, sind jedes Jahr nach Europa gereist, hatten Freunde, wurden zu allen wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen eingeladen.

Einmal habe ich sogar einen Präsidenten der Vereinigten Staaten in meinem Hause empfangen. Stellen Sie sich das einmal vor! Es waren drei unvergeßliche Tage: zwei Tage lang durchstöberte der amerikanische Geheimdienst jeden Winkel unseres Hauses (sie waren schon seit mehr als einem Monat im Stadtviertel gewesen, hatten – als Bettler oder als Liebespaare verkleidet – strategische Punkte besetzt, Wohnungen gemietet). Und am dritten Tag war dann das Fest, und auch wenn es nur zwei Stunden dauerte, werde ich doch nie den Neid in den Augen unserer Freunde vergessen noch die Freude, mit dem mächtigsten Mann des Planeten fotografiert zu werden.

Wir hatten alles, nur nicht, was wir uns am meisten wünschten: ein Kind. Also hatten wir gar nichts.

Wir haben es auf alle nur möglichen Arten versucht. Wir haben Gelübde abgelegt, haben wunderträchtige Orte besucht, haben Ärzte und Heiler befragt, haben Medikamente geschluckt und Elixiere und Zaubertränke zu uns genommen. Zweimal habe ich eine künstliche Befruchtung machen lassen und das Baby verloren. Beim zweiten Mal verlor ich auch meinen linken Eileiter und fand keinen Arzt mehr, der das Risiko eines neuen Abenteuers dieser Art eingehen wollte.

Damals hat dann einer unserer vielen Freunde, die unsere Lage kannten, uns den einzig möglichen Ausweg vorgeschlagen: ein Kind zu adoptieren. Er sagte, er habe Kontakte in Rumänien und daß das Verfahren nicht lange dauern werde.

Einen Monat später haben wir uns in ein Flugzeug gesetzt. Unser Freund machte wichtige Geschäfte mit dem Diktator, der damals das Land regierte. So konnten wir die bürokratischen Instanzenwege vermeiden und sind direkt in ein Adoptionszentrum in Sibiu (auch bekannt als Hermannstadt), Transsylvanien gefahren. Dort wurden wir schon mit Kaffee, Zigaretten, Mineralwasser und dem ganzen, bereits erledigten Papierkram erwartet und brauchten nur noch ein Kind auszusuchen.

Wir wurden in eine Kinderkrippe geführt, in der es sehr kalt war, und ich fragte mich, wie man die armen Wesen so behandeln konnte. Mein erster Gedanke war, alle zu adoptieren, sie in unser Land mitzunehmen, in dem es Sonne und Freiheit gab, aber selbstverständlich war das eine verrückte Idee. Wir gingen zwischen den Bettchen hindurch, hörten Weinen, und der Gedanke an die Entscheidung, die wir treffen würden, machte uns Angst.

Mehr als eine Stunde haben mein Mann und ich kein Wort miteinander gewechselt. Wir gingen hinaus, tranken Kaffee, rauchten Zigaretten und gingen wieder zurück – und das wiederholte sich mehrmals. Ich bemerkte, daß die Frau, die mit der Adoption betraut war, allmählich ungeduldig wurde – wir mußten uns entscheiden. Da wies ich, einem Instinkt folgend, den ich mütterlich zu nennen wage, auf ein Mädchen. Es war, als hätte ich ein Kind gefunden, das meines sein sollte, aber in dieser Inkarnation durch einen anderen Leib auf diese Welt gekommen war.

Die Adoptionsbeauftragte schlug vor, unsere Wahl noch einmal zu überdenken. Ausgerechnet sie, die uns eben noch so gedrängt hatte! Aber ich hatte mich bereits entschieden.

In der Absicht, meine Gefühle nicht zu verletzen (sie glaubte, wir hätten Kontakt zu den höchsten Stellen der rumänischen Regierung), flüsterte sie mir dennoch vorsichtig ins Ohr, so daß mein Mann es nicht hören konnte:

»Ich weiß, daß das nichts werden wird. Sie ist die Tochter einer Zigeunerin.«

Ich antwortete ihr, daß Kultur nicht durch Gene weitergegeben werden könne – das Kind, das gerade erst drei Monate alt war, würde unsere Tochter sein und unseren Ge­bräuchen entsprechend erzogen werden. Sie würde die Kirche kennenlernen, in die wir gingen, die Strände, an denen wir uns erholten, sie würde französische Bücher lesen, die Amerikanische Schule in Beirut besuchen. Außerdem wußte ich damals noch kaum etwas über die Kultur der Roma und weiß auch heute noch nicht viel. Nur so viel meinte ich zu wissen: daß sie ständig unterwegs seien, es mit der Sauberkeit nicht sehr genau nähmen, andere Leute betrögen und nur einen Ohrring trügen. Auch hatte man mir erzählt, daß sie Kinder raubten, um sie auf ihre Reisen mitzunehmen. Doch hier war genau das Gegenteil passiert: Sie hatten ein Kind zurückgelassen, damit ich mich um es kümmerte.

Die Frau versuchte noch, mich davon abzubringen, aber ich unterzeichnete bereits die Papiere und bat meinen Mann, es auch zu tun. Als wir wieder in Beirut waren, kam mir die Welt verändert vor: Gott hatte mir einen Sinn gegeben – zu leben, zu arbeiten, in diesem Tal der Tränen zu kämpfen. Wir hatten ein Kind, das alle unsere Mühen rechtfertigte.

Sherine wuchs zu einem klugen und schönen Mädchen heran – sie war wirklich ein außergewöhnliches Kind, obwohl das alle Eltern von ihren Kindern sagen. Eines Nachmittags, damals war sie schon fünf Jahre alt, sagte einer meiner Brüder, daß ihr Name, sollte sie einmal im Ausland arbeiten, immer ihre Herkunft verraten werde – und schlug uns vor, ihr einen anderen Namen zu geben, der keinerlei Hinweis darauf gab, beispielsweise Athena. Inzwischen weiß ich natürlich, daß Athen die Hauptstadt eines Landes und Athene die Göttin der Weisheit, der Intelligenz und des Krieges ist.

Vielleicht wußte mein Bruder nicht nur das, sondern war sich auch der Probleme bewußt, die ein arabischer Name in Zukunft bringen könnte. Er war wie alle Männer in unserer Familie in der Politik tätig und wollte seine Nichte vor den dunklen Wolken schützen, die er – er allein – am Horizont aufziehen sah. Überraschenderweise gefiel Sherine der Klang des Namens. Schon nach wenigen Stunden nannte sie sich selbst Athena, und keiner konnte sie mehr umstimmen. Ihr zuliebe nannten wir sie ebenfalls Athena, obwohl wir glaubten, daß es sich nur um eine vorübergehende Laune handelte.

Kann es sein, daß ein Name das Leben eines Menschen beeinflußt? Die Zeit verging, der Name blieb, und am Ende haben wir uns an ihn gewöhnt.

Als Teenager zeigte Athena eine seltsame religiöse Berufung . Sie war ständig in der Kirche, erstaunlich bibelfest und konnte sogar die Evangelien auswendig, was zugleich ein Segen und ein Fluch war. In einer Welt, in der die Religionszugehörigkeit die Menschen immer mehr voneinander trennte, fürchtete ich um die Sicherheit meiner Tochter. Damals fing Sherine bereits an, uns zu erzählen, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, daß sie eine Reihe unsichtbarer Freunde habe – Engel und Heilige, deren Bilder sie in der Kirche sah, in die wir immer gingen. Viele Kinder überall auf der Welt haben solche Visionen, aber ab einem bestimmten Alter erinnern sie sich kaum mehr daran. Sie behandeln unbelebte Dinge wie Puppen oder Plüschtiere wie lebendige Spielkameraden. Als Athena mir aber eines Tages, als ich sie von der Schule abholte, erklärte, sie habe »eine weiß gekleidete Frau gesehen, die der Jungfrau Maria ähnlich sah«, fand ich das denn doch etwas übertrieben.