Am gleichen Nachmittag sagte mir der Regisseur im Theater, er sei über mein Verhalten verärgert: ich hätte eine Gruppe organisiert, um diese Frau zu besuchen. Ich erklärte ihm, es sei nicht meine Idee gewesen – Heron sei von dieser Geschichte mit dem Bauchnabel fasziniert gewesen und habe mich gefragt, ob einige der Schauspieler bereit seien, jenen unterbrochenen Vortrag fortzusetzen.
»Aber er sagt dir doch nicht etwa, was du zu tun hast, oder?«
Selbstverständlich nicht, aber daß er allein zu Athena ging, war nun wirklich das Letzte, was ich mir wünschte.
Die Schauspieler hatten sich bereits versammelt. Es war eine weitere Lesung des Stückes angesetzt gewesen. Aber der Regisseur hatte offensichtlich beschlossen, das Programm zu ändern.
»Wir werden heute noch eine Psychodrama-Übung machen.« Dazu bestand keine Notwendigkeit. Wir wußten schon alle, wie sich die Personen in den Situationen verhalten würden, die der Autor vorgegeben hatte.
»Darf ich ein Thema vorschlagen?«
Alle drehten sich zu mir um. Der Regisseur schien überrascht zu sein.
»Soll das eine Meuterei werden?«
»Laß es mich erklären: Wir schaffen eine Situation, in der es einem Mann nach langen Kämpfen gelingt, eine Gruppe von Menschen zusammenzubringen, um ein für die Gemeinschaft wichtiges Ritual zu feiern, das mit der Ernte des nächsten Jahres zu tun haben könnte.
Nun kommt aber eine Fremde in das Dorf, und wegen ihrer Schönheit und der Legenden, die sich um sie ranken – es heißt, sie sei eine Göttin in Menschengestalt –, löst sich die Gruppe auf, die der Mann zusammengeführt hatte, damit sie die Bräuche seines Dorfes aufrechterhielten, und trifft sich mit der neu Angekommenen.«
»Aber das hat überhaupt nichts mit dem Stück zu tun, das wir gerade proben!«, sagte eine meiner Kolleginnen.
Der Regisseur hingegen hatte die Botschaft verstanden.
»Das ist eine ausgezeichnete Idee, wir können gleich anfangen.«
Er wandte sich an mich:
»Du, Andrea, wirst diejenige sein, die das Neue vorstellt, das die Dorfbewohner so fasziniert. Und ich werde der gute Mann sein, der versucht, die Bräuche aufrechtzuerhalten. Die Gruppe selber wird aus Paaren bestehen, die Kirchgänger sind, sich sonnabends zu Gemeindearbeiten zusammenfinden und sich gegenseitig helfen.«
Wir legten uns erst einmal auf den Boden, entspannten uns und begannen anschließend mit der Übung, die im Grund genommen sehr einfach ist: Die zentrale Figur (in diesem Fall ich selber) schafft Situationen, und die anderen reagieren darauf.
Nach Beendigung der Entspannungsübung wurde ich zu Athena. In meiner Vorstellung wanderte sie wie Satan durch die Welt auf der Suche nach Untertanen für ihr Reich. Sie tat es aber in der Gestalt von Gaia, der Göttin, die alles weiß und alles geschaffen hat. Fünfzehn Minuten lang bildeten sich die >Paare<, lernten sich kennen, erfanden eine gemeinsame Geschichte, in der es Kinder, Bauernhöfe, Verständnis und Freundschaft gab. Als ich spürte, daß das neu geschaffene Universum bereit war, setzte ich mich in eine Ecke der Bühne und begann, von Liebe zu sprechen.
»Ihr lebt hier alle in einem kleinen Dorf, und ich bin eine Fremde. Ihr habt dieses Dorf nie verlassen, wißt nicht, was jenseits der Berge geschieht. Deshalb möchtet ihr erfahren, was ich euch zu sagen habe. Und ich sage euch: Es besteht keine Notwendigkeit, die Erde zu preisen. Sie wird immer großzügig zu dieser Gemeinschaft sein. Wichtig ist es, den Menschen zu preisen. Ihr sagt, ihr liebt es zu feiern. Ihr benutzt das falsche Wort – Lieben ist eine Beziehung zwischen Menschen. Ihr wollt, daß die Erde fruchtbar wird und die Ernte reichlich und beschließt daher, die Erde zu lieben? Auch das ist Unsinn: Die Liebe ist kein Wunsch, ist kein Wissen, ist nicht Bewunderung. Die Liebe ist ein Feuer, dessen Flammen wir nicht sehen können. Daher irrt ihr euch, wenn ihr glaubt, daß ich hier fremd bin: Mir ist alles vertraut, denn ich komme mit dieser Kraft, mit dieser Flamme zu euch, und wenn ich wieder gehe, wird keiner von euch sein wie vorher. Ich bringe die wahre Liebe, nicht die, von der euch Bücher und Märchen erzählen.«
Der >Mann< eines der >Paare< starrte mich gebannt an. Seine >Frau< war darüber sichtlich verärgert.
Während des Rests der Übung tat der Regisseur – oder besser gesagt der gute Mann – alles nur Erdenkliche, um den Leuten zu erklären, wie wichtig es sei, die Bräuche zu wahren, die Erde zu preisen, sie zu bitten, dieses Jahr so großzügig zu sein wie im vergangenen. Ich hingegen redete nur von Liebe.
»Er sagt, die Erde verlange Rituale? Nun, ich versichere euch: Wenn ihr ausreichend Liebe füreinander empfindet, wird die Ernte reichlich sein, denn die Liebe ist ein Gefühl, das alles verändert. Aber was sehe ich? Freundschaft. Die Leidenschaft ist seit langem erloschen, weil ihr euch schon aneinander gewöhnt habt. Nur deshalb gibt die Erde, was sie schon im vergangenen Jahr gegeben hat. Und nur deshalb beklagt ihr euch tief in eurer Seele darüber, daß sich in eurem Leben nichts verändert. Warum? Weil ihr versucht, die Kraft zu kontrollieren, die alles verändert, damit euer Leben ohne große Herausforderungen weitergehen kann.«
Der gute Mann erklärte daraufhin:
»Unsere Gemeinschaft hat immer überlebt, weil sie die Gesetze achtet, und sogar die Liebe wird durch sie geleitet. Derjenige, der sich verliebt, ohne das Wohl der Gemeinschaft im Auge zu behalten, wird stets in Angst leben: in Angst, seine Gefährtin zu verletzen, seine neue Leidenschaft zu erzürnen, alles zu verlieren, was er aufgebaut hat. Eine Fremde ohne Bindungen und ohne Geschichte kann sagen, was sie will, aber sie kennt die Schwierigkeiten nicht, die wir bewältigen mußten, bevor sie zu uns kam. Sie kennt die Opfer nicht, die wir für unsere Kinder bringen mußten. Sie weiß nicht, daß wir unermüdlich arbeiten, damit die Erde sich großzügig zeigt, der Friede mit euch ist, die Vorräte für morgen gehortet werden.«
Eine Stunde lang verteidigte ich die alles verschlingende Leidenschaft, während der gute Mann über das Gefühl sprach, das Frieden und Ruhe bringt. Am Ende stand ich allein da und redete, während die Gemeinschaft sich um ihn scharte.
Ich hatte meine Rolle mit Begeisterung und einem Glauben gespielt, den ich bei mir nicht vermutet hatte. Dennoch verließ die Fremde das Dorf, ohne jemanden überzeugt zu haben.
Und das machte mich sehr, sehr zufrieden.
Heron Ryan, Journalist
Ein alter Freund von mir sagt immer: »Man lernt 25 Prozent von einem Meister, 25 Prozent, indem man auf sich selbst hört, 25 Prozent von Freunden und 25 Prozent durch die Zeit.« Bei dem ersten Treffen in Athenas Wohnung, bei dem sie die unterbrochene Unterrichtsstunde im Theater fortsetzen wollte, haben wir alle etwas von … – ja, von wem überhaupt? – gelernt.
Sie empfing uns in dem kleinen Wohnzimmer ihrer Wohnung mit ihrem Sohn. Mir fiel als Erstes auf, daß das Zimmer vollkommen weiß und – abgesehen von einem Sofa, einem Regal mit einer Musikanlage und einem Stapel CDS – leer war. Ich wunderte mich, daß Viorel dabei war, der sich bei einem Seminar doch bestimmt langweilen würde. Ich hoffte, daß Athena da weitermachen würde, wo sie aufgehört hatte. Aber sie hatte offenbar etwas anderes im Sinn. Sie sagte, sie werde Musik aus Sibirien auflegen, alle sollten einfach nur zuhören.
Mehr nicht.
»Meditation ist nichts für mich«, sagte sie. »Dabei sitzen Leute mit geschlossenen Augen, einem Lächeln auf den Lippen, mit ernstem Gesicht aufrecht da, auf überhaupt nichts konzentriert, und sind überzeugt davon, mit Gott oder der Göttin in Verbindung zu sein. Wir werden wenigstens Musik miteinander hören.«
Wieder dieses unbehagliche Gefühl, als würde Athena nicht genau wissen, was sie machte. Aber fast alle Schauspieler aus dem Theater waren da, auch der Regisseur – der Andrea zufolge das feindliche Terrain sondierte.