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Die Musik endete.

»Tanzen Sie dieses Mal gegen den Rhythmus der Musik.«

Athena stellte die CD noch einmal an, diesmal aber viel lauter, und begann ihren Körper unrhythmisch zu bewegen. Nur ein älterer Schauspieler, der im Stück einen betrunkenen König darstellte, machte, was sie gesagt hatte. Niemand sonst bewegte sich: Alle wirkten etwas gehemmt. Jemand schaute auf die Uhr – es waren erst zehn Minuten vergangen.

Athena hörte mit dem Tanzen auf und blickte um sich.

»Warum stehen Sie alle so da?«

»Es kommt mir … etwas lächerlich vor, das zu tun«, hörte man die schüchterne Stimme einer Schauspielerin sagen. »Uns hat man beigebracht, daß Harmonie wichtig ist und nicht das Gegenteil.«

»Machen Sie einfach, was ich sage. Brauchen Sie eine intellektuelle Erklärung? Gut, ich gebe sie Ihnen: Veränderungen vollziehen sich nur, wenn wir etwas machen, das gegen alles verstößt, was wir sonst gewohnt sind.«

Dann wandte sie sich an den »betrunkenen König«: »Warum haben Sie sich darauf eingelassen, gegen den Rhythmus der Musik zu tanzen?«

»Das war für mich kein Problem: Ich kann nämlich nicht tanzen.«

Alle lachten, und die schwarze Wolke, die im Raum gehangen hatte, verschwand wieder.

»Also gut, ich fange noch einmal an. Sie machen entweder, was ich Ihnen vorschlage, oder gehen einfach – diesmal bin ich es, die bestimmt, wann das Seminar zu Ende ist. Gegen das anzugehen, was er schön findet, verlangt vom Menschen viel aggressive Energie. Genau das werden wir heute entwickeln. Wir werden schlecht tanzen. Allesamt.«

Es würde nur eine weitere neue Erfahrung sein, und um höflich zu sein, tanzten alle. Ich kämpfte mit mir, denn eigentlich wollte ich zu der wunderbaren, mysteriösen Perkussionsmusik tanzen und nicht gegen sie. Ich fühlte mich dabei so, als würde ich die Musiker, die sie spielten, den Komponisten, der sie sich ausgedacht hatte, angreifen. Mein Körper kämpfte immer wieder gegen das Fehlen von Harmonie, und ich zwang ihn, sich so zu verhalten, wie Athena es verlangt hatte. Viorel tanzte auch, lachte die ganze Zeit, setzte sich aber irgendwann auf das Sofa, vielleicht weil er erschöpft war. Die CD wurde unvermittelt gestoppt.

»Warten Sie!«

Alle warteten.

»Ich werde etwas tun, was ich noch nie getan habe.«

Sie schloß die Augen und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Ich habe auch noch nie gegen den Rhythmus getanzt …« Aber, wie es schien, war es ihr schlechter bekommen als uns.

»Es geht mir nicht gut.«

Der Regisseur und ich gingen auf Athena zu. Andrea sah mich irgendwie wütend an, aber ich ging trotzdem zu ihr. Noch bevor ich sie berührte, sagte sie uns, wir sollten an unsere Plätze zurückkehren.

»Will jemand etwas sagen?« Ihre Stimme klang zerbrechlich, zittrig, sie hielt das Gesicht immer noch in den Händen vergraben.

»Ich möchte etwas sagen.«

Es war Andrea.

»Bitte kümmere dich erst einmal um meinen Sohn. Ich kann jetzt nicht.«

Viorel wirkte erschrocken. Andrea setzte ihn auf ihren Schoß und streichelte ihn.

»Was wolltest du sagen?«

»Nichts. Ich habe es mir anders überlegt.«

»Das Kind hat dich dazu gebracht. Aber rede ruhig weiter.«

Langsam nahm Athena die Hände vom Gesicht, hob den Kopf und sah ganz fremd aus.

»Ich werde nichts sagen.«

»In Ordnung. Und du«, sie wies auf den alten Schauspieler, »solltest morgen zum Arzt gehen. Deine Schlaflosigkeit, daß du ständig ins Bad mußt, das ist etwas Ernstes. Es ist ein Prostatakrebs.«

Der Mann wurde leichenblaß.

»Und du«, sie wies auf den Regisseur, »stehe zu deiner sexuellen Identität. Habe keine Angst. Akzeptiere, daß du Frauen nicht magst, daß du Männer liebst.«

»Was sagen Sie da … «

»Unterbrich mich nicht. Ich sage das nicht wegen Athena. Ich meine nur deine sexuellen Neigungen: Du liebst Männer, und ich finde nichts Falsches daran.«

Ich sage das nicht wegen Athena?! Aber sie war doch Athena!

»Und du«, sie wies auf mich, »komm her! Knie vor mir nieder! «

Ich gehorchte, hatte aber Angst wegen Andrea und schämte mich vor den anderen.

»Senke den Kopf. Ich möchte deinen Nacken berühren.«

Ich spürte den Druck ihrer Finger, sonst nichts. Wir verharrten fast eine Minute lang so, dann ließ sie mich aufstehen und an meinen Platz zurückkehren.

»Du wirst nie wieder Schlaftabletten brauchen. Von heute an wirst du wieder ohne schlafen können.«

Ich sah Andrea an – ich erwartete, sie würde etwas dazu sagen, aber ihr Blick zeigte, daß sie genauso verblüfft war wie ich.

Eine der Schauspielerinnen hob die Hand.

»Ich möchte etwas sagen. Aber ich muß wissen, an wen ich mich wende.«

»Hagia Sophia.«

»Ich möchte wissen, ob …«

Es war die Jüngste in unserer Gruppe. Sie blickte unsicher um sich, aber der Regisseur machte ihr mit dem Kopf ein Zeichen fortzufahren.

»… ob es meiner Mutter gutgeht.«

»Sie ist an deiner Seite. Gestern, als du das Haus verlassen hast, hat sie dich dazu gebracht, deine Handtasche zu vergessen. Du bist zurückgegangen, um sie zu holen, und hast festgestellt, daß der Haustürschlüssel in der Wohnung war und du nicht hineinkonntest. Du hast eine Stunde gebraucht, um einen Schlüsseldienst zu holen, anstatt zu deiner Verabredung zu gehen, den Mann zu treffen, der auf dich wartete, den Job zu bekommen, den du so gern gehabt hättest. Wäre aber alles so gelaufen, wie du es am Morgen geplant hattest, wärest du sechs Monate später bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Gestern hat die vergessene Handtasche dein Leben verändert.«

Die junge Frau begann zu weinen.

»Möchte noch jemand etwas fragen?«

Eine weitere Hand ging in die Höhe. Es war der Regisseur.

»Liebt er mich?«

Dann stimmte es also. Die Geschichte mit der Mutter der jungen Frau hatte im Zimmer Gefühlschaos ausgelöst.

»Du hast die Frage falsch gestellt: Du mußt herausfinden, ob du in der Lage bist, ihm die Liebe zu geben, die er braucht. Und was auch immer geschieht, wird gut sein. Zu wissen, daß man fähig ist zu lieben, ist ausreichend.«

Diese Worte waren auch an mich gerichtet. Und Athena – oder wer auch immer das war

– wandte sich an Andrea.

»Du! «

Das Blut gefror mir in den Adern.

»Du wirst die Welt verlieren, die du dir geschaffen hast.«

»Was meinst du mit >Welt<?«

»Das ist etwas, von dem du glaubst, daß du es besitzt. Du hast deine Welt in Fesseln gelegt, weißt aber, daß du sie befreien mußt. Ich weiß, daß du verstehst, was ich sage,

obwohl du gewünscht hast, es nie zu hören.«

»Ich verstehe es.«

Ich war mir sicher, daß sie von mir sprachen. War das alles nur eine Inszenierung Athenas?

»Jetzt ist Schluß«, sagte sie. »Bringt mir das Kind.«

Viorel wollte nicht zu ihr, ihn hatte die Verwandlung seiner Mutter erschreckt. Doch Andrea nahm ihn zärtlich bei der Hand und brachte ihn zu ihr.

Athena – oder Hagia Sophia oder Sherine, wer auch immer das war – machte mit dem Kind, was sie schon mit mir getan hatte: Sie legte ihre Hand auf seinen Nacken.

»Erschrick nicht wegen der Dinge, die du siehst, mein Sohn. Versuche nicht, sie von dir zu weisen, denn sie werden so oder so verschwinden. Nutze die Gegenwart der Engel, solange du kannst. In diesem Augenblick hast du Angst, aber nicht so viel Angst wie du hättest, wenn du hier allein wärst. Du hast aufgehört zu lachen und zu tanzen, als ich deine Mutter umfangen und gebeten habe, aus ihrem Mund sprechen zu dürfen. Ich wußte, daß sie es mir erlauben würde, sonst hätte ich es nicht getan. Ich bin immer als Licht erschienen und werde weiterhin Licht sein, aber heute habe ich beschlossen zu sprechen.«

Der Junge umarmte sie.

»Ihr könnt gehen. Laßt mich mit ihm allein.«