Wir verließen nacheinander die Wohnung, ließen die Frau mit dem Kind zurück. Im
Taxi nach Hause versuchte ich mit Andrea ins Gespräch zu kommen, aber sie bat mich, nicht über das zu sprechen, was gerade geschehen war.
Ich schwieg. Meine Seele füllte sich mit Traurigkeit: Andrea zu verlieren, war schwer. Andererseits spürte ich einen unendlichen Frieden – die Ereignisse hatten Veränderungen hervorgerufen, und mir blieb die unangenehme Aufgabe erspart, der Frau, die ich liebte, zu eröffnen, daß ich noch in jemand anderen verliebt sei.
Also sagte ich nichts. Zu Hause stellte ich den Fernseher an. Andrea nahm ein Bad. Ich schloß die Augen, und als ich sie wieder öffnete, war das Zimmer von Licht durchflutet. Es war bereits Tag, ich hatte fast zehn Stunden lang geschlafen. Neben mir lag ein Kärtchen, auf das Andrea geschrieben hatte, sie habe mich nicht wecken wollen und sei direkt ins Theater gegangen. Der Kaffee stehe auf dem Tisch. Es war ein romantisches Kärtchen mit einem Lippenstiftabdruck und einem kleinen Herzaufkleber.
Andrea war keineswegs bereit, ihre Welt aufzugeben. Sie würde kämpfen. Und mein Leben würde sich in einen Alptraum verwandeln.
Am Nachmittag rief sie an, und ihre Stimme war wie sonst. Andrea erzählte mir, daß dieser eine Schauspieler tatsächlich zum Arzt gegangen sei, der eine Tastuntersuchung vorgenommen und entdeckt habe, daß seine Prostata ungewöhnlich entzündet war. Der nächste Schritt sei eine Blutuntersuchung gewesen, bei der eine beträchtliche Erhöhung des Wertes eines Proteins namens PSA festgestellt worden sei. Es wurde eine Biopsie vorgenommen, und es hieß, aller Wahrscheinlichkeit handele es sich um einen bösartigen Tumor.
»Der Arzt hat gesagt: Sie haben Glück; auch wenn die Lage nicht gerade rosig ist, kann der Tumor noch operiert werden, und es gibt eine neunundneunzigprozentige Heilungschance.«
Deidre O'Neill, bekannt als Edda
Was heißt hier Hagia Sofia? Sie selbst war es gewesen, Athena, aber sie hatte den Grund des Flusses berührt, der in ihrer Seele fließt – sie war in Verbindung mit der Großen Mutter getreten.
Sie hatte nur in eine andere Realität geschaut. Die Mutter der jungen Frau lebte, weil sie tot war, an einem zeitlosen Ort und konnte daher Ereignisse abwenden. Wir Menschen aber werden immer darauf beschränkt sein, nur die Gegenwart zu kennen. Das ist, nebenbei gesagt, nicht wenig: eine Krankheit im Inkubationsstadium zu erkennen, bevor sie sich verschlimmert. Nervenzentren berühren und die Energieblockaden lösen, das liegt innerhalb unserer Möglichkeiten.
Natürlich sind viele von uns auf dem Scheiterhaufen gestorben, andere wurden verbannt, und viele von uns haben den Funken der Großen Mutter in ihrer Seele am Ende verborgen und unterdrückt. Ich habe nie versucht, Athena dazu zu bringen, in Kontakt mit der Macht zu treten. Sie selbst hat beschlossen, es zu tun, denn die Große Mutter hatte ihr schon mehrere Zeichen gegeben: Sie war ein Licht gewesen, als Athena tanzte, sie hatte sich in Buchstaben verwandelt, als Athena Kalligraphie lernte, sie war in den Flammen eines Feuers und in einem Spiegel aufgetaucht. Allerdings war meiner Schülerin nicht klar, wie sie die Große Mutter in ihr Leben integrieren sollte, bis sie dann etwas getan hatte, was diese ganze Folge von Ereignissen ausgelöst hatte.
Athena, die immer sagte, es käme darauf an, anders zu sein, war im Grunde ein Mensch wie jeder andere Sterbliche auch. Sie hatte ihren eigenen Rhythmus, ihr eigenes Tempo, mit dem sie durchs Leben ging. War sie neugieriger als andere? Vielleicht. War es ihr gelungen, ihre Schwierigkeiten zu überwinden, die darin bestanden, sich als Opfer zu fühlen? Ganz bestimmt. Verspürte sie den Drang, mit anderen, seien es Bankangestellte oder Schauspieler, zu teilen, was sie gerade lernte? In den meisten Fällen lautete die Antwort ja. Ansonsten habe ich versucht, sie anzuregen, und ihr klargemacht, daß es wichtig sei, nicht einsam zu sein, denn dazu seien wir nicht geschaffen. Wenn wir uns mit dem Blick der anderen ansehen würden, könnten wir uns selber erkennen.
Aber mehr kann ich nicht tun.
Weil die Große Mutter sich an jenem Abend offenbaren wollte, hat sie Athena möglicherweise eingeflüstert: >Gehe gegen alles an, was du bislang gelernt hast – du, die du eine Meisterin des Rhythmus bist, lasse diesen durch deinen Körper fließen, gehorche ihm aber nicht.< Deshalb hat Athena diese Übung vorgeschlagen: ihr Unbewußtes war darauf vorbereitet, die Große Mutter in ihr Leben zu integrieren, aber sie befand sich noch immer im Einklang mit den alten Schwingungen und verhinderte so, daß etwas von außen Kommendes sich manifestieren konnte.
Mir ist es ähnlich ergangen: Die beste Art zu meditieren, in Kontakt mit dem Licht zu kommen, war für mich Stricken gewesen, etwas, das meine Mutter mir als Kind beigebracht hatte. Ich konnte Maschen zählen, die Nadeln bewegen, durch Wiederholung und Harmonie schöne Dinge schaffen. Eines Tages bat mich mein Beschützer, gegen alle Regeln zu stricken! Das war äußerst schwierig für mich, denn ich strickte mit Liebe, Geduld und Hingabe. Dennoch bestand er darauf, daß ich eine durch und durch schlechte Strickarbeit anfertigen sollte.
Zwei Stunden lang fand ich das lächerlich, absurd, mein Kopf schmerzte, aber ich durfte nicht zulassen, daß die Nadeln meine Hände führten. Jeder kann mal etwas falsch machen, warum hatte mich mein Beschützer dann gebeten, es absichtlich falsch zu machen? Weil er wußte, wie unendlich wichtig mir Symmetrie und Harmonie waren.
Und plötzlich geschah es: Ich ließ die Nadeln ruhen und spürte eine ungeheure Leere, die allmählich von einer warmen, liebenden, vertrauten Gegenwart ausgefüllt wurde. Um mich herum war alles anders, und ich spürte den Drang, Dinge zu sagen, die ich in meinem normalen Zustand zu sagen nie gewagt hätte. Ich war jedoch nicht bewußtlos – ich wußte, daß ich ich selber war, obwohl ich – nehmen wir dieses Paradox einmal hin – nicht diejenige war, die ich sonst war.
Daher kann ich >sehen<, was während des Treffens in Athenas Wohnung geschehen ist, obwohl ich nicht dabei war. Da war Athenas Seele, die dem Klang der Musik folgte, und ihr Körper, der sich in eine vollkommen entgegengesetzte Richtung bewegte. Nach einiger Zeit löste sich die Seele vom Körper, ein Raum wurde geöffnet, den die Große Mutter nun endlich betreten konnte.
Besser gesagt: Ein Funke der Großen Mutter ist dort aufgetaucht. Uralt, aber jugendlich. Weise, aber nicht allmächtig. Außergewöhnlich, aber ohne Überheblichkeit. Athenas Wahrnehmung veränderte sich, und sie sah wieder die Dinge, die sie als Kind gesehen hatte – die parallelen Wirklichkeiten dieser Welt. In solchen Momenten können wir nicht nur den Körper eines Menschen, sondern auch dessen Gefühle sehen. Es heißt, Katzen sollen das können, und ich glaube es auch.
Zwischen der körperlichen und der spirituellen Welt gibt es eine Art Hülle von wechselnder Farbe, Intensität, wechselndem Licht, die von den Mystikern Aura genannt wird. Von ihr ausgehend, ist alles einfach zu erkennen: Die Aura gibt Auskunft über den augenblicklichen Zustand des Menschen. Wenn Athena mich jetzt sähe, würde sie um meinen Körper herum eine violette Farbe mit ein paar gelben Flecken erkennen, was bedeutet, daß ich noch einen langen Weg vor mir habe und meine Mission auf dieser Erde noch nicht beendet ist.
Zugleich mit der menschlichen Aura erscheinen durchsichtige Formen, die gemeinhin >Geister< genannt werden. Das war bei der Mutter der jüngsten Schauspielerin der Fall, an jenem Abend übrigens das einzige Mal, daß eine andere Macht ins Schicksal eingegriffen hat. Ich bin fast sicher, daß diese Schauspielerin sogar schon wußte, daß ihre Mutter an ihrer Seite war, bevor sie ihre Frage stellte. Die einzige Überraschung war für sie die Geschichte mit der Handtasche gewesen.
Der Tanz, bei dem der Rhythmus nicht eingehalten werden durfte, hatte die Leute eingeschüchtert. Warum? Weil wir alle gewohnt sind, die Dinge so zu machen, wie sie >gemacht werden sollten<. Niemand mag einen falschen Schritt tun, vor allem dann nicht, wenn er sich dessen bewußt ist. Auch Athena nicht – es wird ihr nicht leichtgefallen sein, etwas vorzuschlagen, das allem zuwiderlief, was sie liebte.