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Aber beim Video tauchte ein Problem auf: Horizontale Streifen durchzogen das Bild. Eigentlich hätte man den »Tracking«-Knopf drücken müssen. Ich stand auf, doch der Redaktionsleiter hielt mich zurück.

»Das ist so. Sehen Sie es sich einfach weiter an.«

Das Video über eine kleine Stadt in der Provinz ging weiter. Nichts, aber auch gar nichts Interessantes passierte. Es gab nur diese Alltagsszenen.

»Vielleicht wissen einige dieser Menschen, daß zwei Kilometer entfernt ein Unfall stattgefunden hat«, sagte mein Chef. »Vielleicht wissen sie auch, daß es dreißig Tote gegeben hat – was viel ist, aber offenbar nicht ausreicht, sie aus dem Alltagstrott herauszureißen.«

Die nächste Szene zeigte parkende Schulbusse. Sie würden dort ein paar Tage stehenbleiben, und es würde weiter nichts geschehen. Die Bilder waren sehr schlecht.

»Das ist kein >Tracking<, das ist die Strahlung. Das Video wurde vom KGB aufgenommen, dem sowjetischen Geheimdienst.

In der Nacht auf den 26. April um 1 Uhr 23 Uhr ereignete sich der schlimmste dem Menschen anzulastende Unfall in Tschernobyl, in der Ukraine. Durch die Explosion eines Atomreaktors wurden die Menschen in der Region einer Strahlung ausgesetzt, die neunzigmal höher war als die der Bombe von Hiroshima. Die Region hätte evakuiert werden müssen, aber kein Mensch hat etwas gesagt – die Regierung macht schließlich keine Fehler. Eine Woche später meldete die Lokalzeitung von Tschernobyl auf Seite 32 in einer kleinen fünfzeiligen Notiz den Tod der Arbeiter, mehr nicht. In der Zwischenzeit wurde in der gesamten ehemaligen Sowjetunion der Tag der Arbeit gefeiert, und in Kiew defilierten die Menschen, ohne zu wissen, daß unsichtbarer Tod in der Luft lag.«

Und er fuhr fort:

»Ich möchte, daß Sie nach Tschernobyl fahren und sehen, wie es dort heute aussieht. Sie sind hiermit zum Sonderreporter befördert worden. Sie werden eine zwanzigprozentige Gehaltserhöhung erhalten und zudem das Vorschlagsrecht für Artikel haben.«

Ich hätte vor Freude Luftsprünge machen sollen, aber mich überkam eine ungeheure Traurigkeit, die ich überspielen mußte. Ich konnte ihm nichts entgegenhalten, ihm nicht sagen, daß es im Augenblick zwei Frauen in meinem Leben gab, ich nicht aus London wegwollte, daß mein Leben und mein geistiges Gleichgewicht auf dem Spiel standen.

Ich fragte ihn, wann ich fahren solle, er meinte, sobald wie möglich, denn Gerüchten zufolge beabsichtigten andere Länder, die Produktion von Atomenergie entscheidend zu erhöhen.

Mir gelang ein ehrenhafter Abgang, indem ich ihm sagte, ich müsse noch ein paar Spezialisten dazu befragen, mich in die Sache einarbeiten, und daß ich abreisen würde, sobald ich alles notwendige Material gesammelt hätte.

Er war einverstanden, gab mir die Hand und beglückwünschte mich. Ich hatte keine Zeit, mit Andrea zu sprechen – als ich nach Hause kam, war sie noch nicht aus dem Theater zurück. Ich schlief sofort ein und fand beim Aufwachen wieder ein Kärtchen vor, auf dem stand, sie sei schon zur Arbeit gegangen und der Kaffee stehe auf dem Tisch.

Ich ging in die Redaktion und rief, um den Chef zufriedenzustellen, der >mein Leben verbessert< hatte, einen Fachmann für Atomenergie an. Von ihm erfuhr ich, daß insgesamt neun Millionen Menschen auf der ganzen Welt direkt von dem Unfall betroffen waren, darunter drei oder vier Millionen Kinder. Zu den anfänglich dreißig Todesfällen waren, dem Spezialisten John Gofmans zufolge, über 900 000 Krebserkrankungen hinzugekommen, schon über die Hälfte davon mit tödlichem Ausgang.

Insgesamt zweitausend Städte und Dörfer wurden von der Landkarte getilgt. Dem Gesundheitsministerium von Weißrußland zufolge würden die Erkrankungen an Schilddrüsenkrebs als Folge der weiter bestehenden Radioaktivität zwischen 2005 und 2010 beträchtlich ansteigen.

Ein anderer Fachmann berichtete mir, daß neben diesen 9 Millionen direkt von der Strahlung betroffenen Menschen weitere 65 Millionen in vielen Ländern der Welt indirekt durch den Konsum kontaminierter Nahrungsmittel betroffen waren.

Es handelte sich um ein ernstes Thema, das mit der entsprechenden Sorgfalt behandelt werden mußte. Am Ende des Arbeitstages suchte ich den Redaktionsleiter auf und schlug ihm vor, Tschernobyl am Jahrestag des Unfalls zu besuchen. Bis dahin könnte ich noch Nachforschungen anstellen, weitere Fachleute befragen und in Erfahrung bringen, wie die englische Regierung mit der Tragödie umgegangen sei. Er war einverstanden.

Ich rief Athena an – sie hatte ja gesagt, ihr Freund arbeite bei Scotland Yard, und jetzt war der Augenblick gekommen, ihn um einen Gefallen zu bitten, da Tschernobyl ja kein als geheim eingestuftes Thema war und die Sowjetunion nicht mehr existierte. Sie versprach mir, mit ihrem >Verlobten< zu sprechen, meinte aber, sie könne mir nicht garantieren, daß ich die gewünschten Informationen erhalten würde.

Sie sagte auch, sie werde am Tag darauf nach Schottland fahren und erst wieder zum nächsten Treffen der Gruppe zurück sein.

»Welche Gruppe ?«

Die Gruppe. Also waren die Treffen schon Routine geworden? Ich wollte mich erkundigen, wann wir uns treffen, uns unterhalten und die offenen Fragen besprechen könnten. Doch sie hatte bereits aufgelegt.

Ich ging nach Hause, schaute mir eine Nachrichtensendung an, aß allein zu Abend und holte danach Andrea vom Theater ab. Ich kam gerade rechtzeitig, um das Ende des Stückes mitzubekommen, und war überrascht zu sehen, daß die Person auf der Bühne nicht die war, mit der ich seit zwei Jahren zusammenlebte. Es lag etwas Magisches in ihren Gesten, die Monologe und Dialoge hatten eine Intensität, die ich nicht gewohnt war. Ich sah eine Fremde, eine Frau, die ich gern an meiner Seite gehabt hätte – und mir wurde bewußt, daß ich sie ja an meiner Seite hatte, daß sie mir keineswegs fremd war.

»Wie ist dein Gespräch mit Athena gelaufen?«, fragte ich auf dem Nachhauseweg.

»Gut. Und wie geht es bei dir voran?«

Sie wechselte das Thema. Ich berichtete ihr, daß ich befördert worden war, erzählte von Tschernobyl, aber sie zeigte kein großes Interesse. Allerdings fragte sie mich, sobald wir zu Hause waren, ob wir nicht zusammen baden sollten, und kurz darauf fanden wir uns im Bett wieder. Vorher hatte sie diese Perkussionsmusik voll aufgedreht (sie sagte mir, sie hätte von Athena eine Kopie bekommen) und meinte, ich solle nicht an die Nachbarn denken – wir würden sowieso zu sehr auf sie Rücksicht nehmen und nie unser Leben so führen, wie wir es wollten.

Was dann passierte, konnte ich überhaupt nicht einordnen. Sollte die Frau, die vollkommen wild mit mir Liebe machte, am Ende ihre Sexualität entdeckt haben – und beigebracht oder provoziert hatte das eine andere Frau?

Denn während sie mich mit noch nie erlebter Heftigkeit packte, sagte sie ununterbrochen:

»Heute bin ich dein Mann und du meine Frau.«

Und das ging fast eine Stunde so. Ich probierte Dinge aus, die ich zuvor nie gewagt hatte. Irgendwann schämte ich mich, wollte sie bitten aufzuhören, aber sie schien die Situation fest im Griff zu haben. Ich gab mich hin – denn ich hatte keine andere Wahl. Und, was das Schlimmste war, ich war wahnsinnig neugierig.

Am Ende war ich erschöpft, aber Andrea schien mehr Energie zu haben als zuvor.

»Bevor du einschläfst, möchte ich, daß du eines weißt«, sagte sie. »Wenn ich weitermache, wird dir Sex die Gelegenheit geben, mit Göttern und Göttinnen Liebe zu machen. Das hast du heute erlebt. Ich möchte, daß du, bevor du einschläfst, weißt, daß ich die Große Mutter in dir geweckt habe.«

Ich hätte sie gern gefragt, ob sie das von Athena gelernt habe, hatte aber nicht den Mut dazu.

»Sag mir, ob es dir gefallen hat, eine Nacht lang Frau zu sein.«