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Mir war damals nicht klar, daß ich nur eine weitere Figur in einer komplizierten Schachpartie war, bei der unsichtbare Hände meine Ideale manipulierten und alles, was ich allein für die Menschheit zu tun glaubte, einen doppelten Zweck erfüllte: die Regierung des Nachfolgers des Diktators zu stabilisieren und England zu erlauben, Waffen auf einem von den Sowjets beherrschten Markt zu verkaufen.

Meine guten Absichten genügten nicht, weil ich schon bald feststellen mußte, daß Impfungen allein nicht ausreichten. Es grassierten andere Krankheiten in der Region, ich schrieb ständig Bittbriefe um weitere Mittel, die mir aber versagt wurden. Immer hieß es, ich solle mich nur um die mir übertragene Aufgabe kümmern.

Ich war empört und fühlte mich ohnmächtig. Ich hatte das Elend aus nächster Nähe kennengelernt, hätte Möglichkeiten gehabt, etwas zu tun, wenn man mir ein paar Pfund Sterling gegeben hätte, aber keiner war daran sonderlich interessiert. Unsere Regierung wollte nur, daß die Zeitungen über diese Gruppen berichteten, die sie in humanitärer Mis­sion in verschiedene Gebiete der Welt geschickt hatte, und daß ihre Wähler und die Opposition das lasen. Selbstverständlich hatte sie neben ihrem Wunsch, Waffen zu verkaufen, auch die besten Absichten.

Ich war verzweifelt: Was zum Teufel war nur mit dieser Welt los? Eines Nachts bin ich allein in den Wald gegangen und habe Gott verflucht, der in allem und allen gegenüber ungerecht war. Ich saß am Fuß einer Eiche, als mein Beschützer zu mir trat. Er meinte, ich könnte erfrieren. Ich antwortete ihm, ich sei Ärztin, ich kenne meine körperlichen Grenzen, und wenn ich an diese Grenzen käme, würde ich ins Camp zurückkehren. Ich fragte ihn, was er dort im Wald mache.

»Ich unterhalte mich mit der Frau, die mich hört, denn die Menschen sind taub«, sagte er und ließ mich dort sitzen.

Ich dachte, er meinte mich – aber nein, die Frau war der Wald. Ich sah ihn durch den Wald davongehen, gestikulieren und Unverständliches sagen. Ich war also nicht die Einzige auf der Welt, die mit sich selber sprach. Das beruhigte mich. Als ich gerade gehen wollte, kam er zu mir zurück.

»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte er. »Im Dorf haben Sie den Ruf, ein guter Mensch, immer gut gelaunt und hilfsbereit zu sein, aber ich sehe etwas anderes in Ihnen: Wut und Frustration.«

Ich wußte nicht, ob ich einen Spion der Regierung vor mir hatte, sagte ihm aber alles, was ich gerade fühlte – ich mußte meinem Herzen Luft machen, auch wenn ich Gefahr lief, festgenommen zu werden. Wir gingen zusammen zum Feldlazarett, in dem ich arbeitete, ich nahm ihn mit in den Schlaftrakt, der in diesem Augenblick leer war (meine Kollegen amüsierten sich bei einem Fest, das alljährlich in der nahen Stadt gefeiert wurde), und lud ihn ein, etwas mit mir zu trinken. Er zog eine Flasche aus der Tasche:

»Palinka«, sagte er und meinte damit das hochprozentige traditionelle Getränk des Landes. »Ich lade Sie ein.«

Wir tranken gemeinsam, ich bekam nicht mit, daß ich allmählich betrunken wurde. Ich merkte es erst, als ich versuchte, ins Bad zu gehen, über etwas stolperte und zu Boden fiel.

»Bewegen Sie sich nicht«, sagte der Mann. »Schauen Sie genau auf das, was Sie vor Augen haben.«

Eine Ameisenkolonne.

»Ameisen gelten allgemein als sehr klug, verfügen über Erinnerungsvermögen, Intelligenz, Organisationsfähigkeit, Opfergeist. Sie sammeln im Sommer Nahrung, horten sie für den Winter, und jetzt gehen sie in diesem eisigen Frühling wieder hinaus, um zu arbeiten. Würde morgen die Welt von einem Atomkrieg zerstört, würden die Ameisen überleben.«

»Woher wissen Sie das alles ?«

»Ich habe Biologie studiert.«

»Und wie nutzen Sie Ihr Studium, um die Lage Ihres Volkes zu verbessern? Wieso gehen Sie allein im Wald umher und reden mit den Bäumen?«

»Erstens war ich nicht allein – außer den Bäumen haben Sie mir zugehört. Aber, um auf Ihre Frage zu antworten: Ich habe die Biologie aufgegeben, um Schmied zu werden.«

Mühsam stand ich auf. In meinem Kopf drehte sich alles, aber ich war noch klar genug, um die Lage dieses armen Mannes zu erfassen. Er hatte, obwohl er studiert hatte, keine Arbeit bekommen. Ich sagte, in meinem Land sei das genauso.

»Sie liegen ganz falsch. Ich habe die Biologie aufgegeben, weil ich als Schmied arbeiten wollte.schon als kind war ich fasziniert von diesen Männern, die den Stahl mit dem Hammer bearbeiten, dabei eine eigenartige Musik machen, um sich herum Funken verbreiten, das glühende Eisen ins Wasser tauchen und damit Wolken aus Wasserdampf schaffen. Ich war ein unglücklicher Biologe, denn mein Traum war, das starre Metall sanfte Formen annehmen zu lassen. Bis eines Tages ein Beschützer kam.«

»Ein Beschützer ?«

»Nehmen wir einmal an, daß Sie beim Anblick dieser Ameisen, die genau das tun, wozu sie bestimmt sind, ausrufen: >Das ist ja phantastisch!< Die Wächter sind genetisch darauf vorbereitet, sich für die Königin zu opfern, die Arbeiter schleppen Blätter, die zehnmal schwerer als sie selber sind, die Ingenieure bauen Tunnel, die Stürme und Überschwemmungen überstehen. Sie liefern sich tödliche Kämpfe mit ihren Feinden, leiden für die Gemeinschaft, aber sie fragen sich nie: Was machen wir hier?

Die Menschen versuchen, die vollkommene Gesellschaft der Ameisen nachzuahmen, und ich als Biologe erfüllte meine Rolle, bis jemand kam und mich fragte:

>Stellt dich das, was du tust, zufrieden?<

Ich sagte: >Selbstverständlich, ich nütze meinem Volk.<

>Und reicht dir das ?<

Ich wußte nicht, ob mir das reichte, aber sagte zu ihm, er sei arrogant und egoistisch.

Er entgegnete: >Das mag sein. Aber du hast bislang nur wiederholt, was Menschen tun, seit es Menschen gibt – du ordnest Dinge.<

>Aber die Welt hat Fortschritte gemacht<, antwortete ich ihm darauf. Er fragte mich, ob ich Geschichtskenntnisse habe – selbstverständlich hatte ich welche. Er stellte eine weitere Frage:

>Waren wir nicht schon vor Jahrtausenden in der Lage, große Bauwerke wie die Pyramiden zu errichten? Waren wir nicht fähig, Götter zu verehren, zu weben, Feuer zu machen, uns Geliebte und Ehefrauen zuzulegen, geschriebene Botschaften weiterzugeben?< Und fuhr dann fort:

>Selbstverständlich. Aber auch wenn sich die Gesellschaft so organisiert hat, daß es anstelle von Sklaven, die nichts bekamen, Sklaven gab, die einen Lohn erhielten, sind Fortschritte nur auf dem Gebiet der Wissenschaft gemacht worden. Die Menschen stellen sich heute noch immer dieselben Fragen wie ihre Vorfahren. Oder anders gesagt, sie haben sich überhaupt nicht weiterentwickelt.<

In diesem Augenblick wurde mir klar, daß dieser Mensch, der mir diese Fragen gestellt hatte, vom Himmel geschickt worden, ein Engel, ein Beschützer war.«

»Warum nennen Sie ihn Beschützer ?«

»Weil er mir gesagt hat, daß es zwei Traditionen gibt: eine, die uns Jahrhunderte hindurch dazu anhielt, immer das Gleiche zu machen. Die andere, die uns die Pforten zum Unbekannten öffnet. Aber diese zweite Tradition ist unbequem und gefährlich, weil sie, wenn sie zu viele Anhänger hat, am Ende eine Gesellschaft zerstören wird, deren Organisation nach dem Vorbild der Ameisen so viel Mühe gekostet hat. Daher ist diese Tradition zu etwas Geheimem geworden und konnte nur so viele Jahrhunderte überleben, weil ihre Anhänger mit Symbolen eine geheime Sprache geschaffen haben.«

»Haben Sie ihn noch mehr gefragt ?«

»Natürlich, denn, obwohl ich es leugnete, wußte er, daß ich mit dem, was ich tat, nicht zufrieden war. Mein Beschützer meinte: >Ich habe Angst davor, Schritte zu tun, die von der Gesellschaft nicht vorgesehen sind, aber trotz meiner großen Ängste erscheint mir ein solches Leben letztlich sehr viel interessanter.<

Ich wollte mehr über die Tradition wissen, und er sagte etwas wie: >Solange Gott männlich ist, werden wir immer Nahrung und ein Dach über dem Kopf haben. Wenn die Große Mutter am Ende ihre Freiheit erringt, werden wir möglicherweise unter freiem Himmel schlafen und von Luft und Liebe leben müssen, es sei denn, wir sind imstande, Gefühl und Arbeit ins Gleichgewicht zu bringen.<