Ich bin vorsichtig genug, nicht verantwortungslos über diese Dinge zu sprechen, sonst wird man mich als Scharlatanin brandmarken, und viele Leben, die ich retten könnte, gingen so am Ende verloren.
Wenn ich Zweifel habe, bitte ich die Große Mutter um Hilfe. Sie ist mir nie eine Antwort schuldig geblieben. Aber sie hat mir immer geraten, zurückhaltend zu sein.
Sie hat Athena sicher mehrfach denselben Ratschlag gegeben.
Aber Athena war zu sehr von dieser Welt fasziniert, die sich ihr auftat, und hat nicht darauf gehört.
Eine Londoner Zeitung, 24. August 1994 DIE HEXE VON PORTOBELLO
London (© Jeremy Lutton) – »Ich glaube aus verschiedenen Gründen nicht an Gott. Man braucht nur zu sehen, wie sich diejenigen aufführen, die glauben!« Das war die Reaktion von Robert Wilson, einem Ladenbesitzer an der Portobello Road.
Die Straße, die auf der ganzen Welt für ihre Antiquitätengeschäfte und den sonnabendlichen Trödelmarkt bekannt ist, wurde gestern Abend zu einem regelrechten Kriegsschauplatz. Mindestens fünfzig Polizisten des Royal Borough of Kensington and Chelsea waren nötig, um die Gemüter zu beruhigen. Am Ende des Tumultes waren Verletzte zu beklagen, allerdings nur Leichtverletzte. Der Auslöser der fast zwei Stunden dauernden Schlägerei war eine Demonstration, die Reverend Jan Buck gegen den, wie er es nannte, >Satanskult im Herzen Englands< organisiert hatte.
Buck zufolge würde eine Gruppe verdächtiger Leute, die sich immer montags nachts traf, um den Dämon anzurufen, die Nachbarschaft nicht zur Ruhe kommen lassen. Die Zeremonien würden von der Libanesin Sherine H. Khalil geleitet, die sich selber Athena, die Göttin der Weisheit, nannte.
Sie versammelte etwa zweihundert Leute in einem alten Getreidespeicher. Mit jeder Woche wurden es mehr Menschen, und am vergangenen Montag hatten ebenso viele Menschen draußen gestanden und auf eine Möglichkeit gewartet, hineinzugelangen und auch an der Veranstaltung teilnehmen zu können. Als Reverend Buck feststellen mußte, daß keine seiner mündlichen Beschwerden, Eingaben, Unterschriftensammlungen und Briefe an die Zeitungen Erfolg hatten, beschloß er, seine Gemeinde zu mobilisieren, indem er sie dazu aufforderte, sich um 19 Uhr vor dem Speicher zu versammeln und die >Satansanbeter< am Hineingehen zu hindern.
»Gleich nach Eingang der ersten Anzeige haben wir jemanden hingeschickt, der das Lokal inspiziert hat. Es wurden weder Drogen gefunden, noch gab es Hinweise auf ungesetzliche Praktiken«, sagte ein Polizeibeamter, der nicht genannt werden möchte, denn es wurde bereits eine offizielle Untersuchung der Ereignisse angeordnet. »Da die Musik immer um zehn Uhr abends abgestellt wurde, lag keine Ruhestörung vor, und wir konnten nichts machen. In England gibt es Religionsfreiheit.«
Reverend Buck sieht die Sache vollkommen anders:
»Tatsächlich hat diese Hexe von Portobello, die Meisterin der Scharlatanerie, Kontakte bis in die höchsten Regierungskreise, daher rührt die Untätigkeit der Polizei, die vom Steuerzahler dafür bezahlt wird, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Wir leben in einer Zeit, in der alles erlaubt ist. Die Demokratie wird aufgrund ihrer grenzenlosen Freiheit ausgenutzt und zerstört.«
Der Geistliche meint, die Gruppe sei ihm gleich suspekt vorgekommen. Sie hätte ein heruntergekommenes Gebäude gemietet und es tagelang renoviert, »ein sicheres Zeichen dafür, daß es sich um eine Sekte handelte, deren Mitglieder einer Gehirnwäsche unterzogen worden waren, denn niemand sonst auf der Welt würde unentgeltlich arbeiten«. Auf die Frage, ob seine Gemeindemitglieder nicht ebenfalls karitative Arbeit leisteten oder die Gemeinde unterstützten, antwortete Buck: »Das, was wir machen, tun wir im Namen Jesu.«
Gestern Abend wurden Sherine Khalil, ihr Sohn und ein paar ihrer Freunde von Bucks Gemeindemitgliedern, die mit Plakaten und Megaphonen die Nachbarschaft einluden, sich ihnen anzuschließen, am Betreten des Speichers gehindert. Wortgefechte arteten in körperliche Angriffe aus, und am Ende waren beide Seiten nicht mehr zu kontrollieren.
»Sie behaupten, sie würden im Namen Jesu kämpfen, tatsächlich aber möchten sie, daß wir Jesu Worte nicht mehr hören, der gesagt hat, wir seien alle Kinder Gottes« – sagte die bekannte Schauspielerin Andrea McCain, die sich im Gefolge von Sherine Khalil oder von Athena befand, wie sie sich auch nennt. Andrea McCain trug eine Schramme über der rechten Augenbraue davon. Sie wurde sofort medizinisch versorgt. Sie war aber schon gegangen, bevor der Reporter herausfinden konnte, ob sie etwas mit der Gruppe und ihrem Kult zu tun hatte.
Frau Khalil zufolge, die ihren achtjährigen Sohn zu beruhigen versuchte, nachdem die Ordnung wiederhergestellt war, wird im Speicher nur gemeinsam getanzt. Dem folgt die Anrufung einer als Hagia Sophia bekannten Wesenheit, der Fragen gestellt werden. Die Feier endet mit einer Art Predigt und einem gemeinsamen Gebet zu Ehren der Großen Mutter. Der Polizeioffizier, der die ersten Anzeigen aufgenommen hatte, bestätigt dies.
Soweit wir sehen konnten, hat diese Gemeinschaft weder einen Namen, noch ist sie als Wohltätigkeitsverein eingetragen. Aber das ist, dem Anwalt Sheldon Williams zufolge, auch nicht notwendig: »Wir leben in einem freien Land, in dem Menschen sich ohne kommerzielle Absichten in geschlossenen Räumen zu Veranstaltungen versammeln können, solange sie nicht dazu angestiftet werden, gegen Gesetze zu verstoßen, oder zu Rassismus oder zum Genuss von Betäubungsmitteln.«
Frau Khalil machte deutlich, daß sie nicht beabsichtige, ihre Veranstaltungen wegen der Störungen einzustellen.
»Wir bilden eine Gruppe, um uns gegenseitig Mut zu machen, denn es ist schwierig, allein dem Druck der Gesellschaft standzuhalten«, meinte sie. »Es sollte nicht vergessen werden, daß Menschen im Laufe der Jahrhunderte von Seiten der etablierten Kirche immer wieder unter Druck gesetzt wurden. Immer wenn sie etwas tun, was nicht mit den etablierten, vom Staat anerkannten Religionen übereinstimmt, werden sie unterdrückt – so wie es heute geschehen ist.
Früher sind Menschen wie wir zur Hinrichtungsstätte geschleppt worden, in die Gefängnisse gewandert, auf dem Scheiterhaufen gelandet oder in die Verbannung geschickt worden. Aber heute haben wir die Voraussetzungen, uns dagegen zu wehren, und wir setzen den Kräften, die uns Einhalt gebieten wollen, unsere Kraft entgegen, so wie auch Mitgefühl mit Mitgefühl vergolten wird.«
Mit den Anschuldigungen von Reverend Buck konfrontiert, beschuldigte sie ihn, »seine Gemeindemitglieder zu manipulieren, indem er Intoleranz als Vorwand benutzt und die Lüge zur Rechtfertigung gewalttätigen Handelns einsetzt«.
Dem Soziologen Arthaud Lenox zufolge würden Phänomene wie dieses in den kommenden Jahren verstärkt auftreten, wobei es auch zu ernsten Zusammenstößen zwischen den etablierten Religionen kommen könnte. »In dem Augenblick, als die marxistische Utopie sich als vollkommen unfähig erwies, die Ideen der Gesellschaft zu kanalisieren, hat sich die Welt der religiösen Erweckung zugewandt. Sie tritt vermehrt auf, wenn sich vor einer Jahrhundert-oder Jahrtausendwende irrationale Ängste breitmachen. Ich glaube jedoch, daß, wenn das Jahr 2000 kommt und die Welt weiterbesteht, der gesunde Menschenverstand letztlich überwiegen wird und die Religionen nur ein Rückzugsgebiet für die Schwächsten sein werden, die immer auf der Suche nach Menschen sind, die sie führen.«
D. Evaristo Piazza, einer der Vertreter des Vatikans im Vereinigten Königreich, widerspricht dem: »Was wir da aufkommen sehen, ist nicht das spirituelle Erwachen, das wir alle so sehr erhoffen, sondern eine Welle dessen, was die Amerikaner >New Age< nennen. Es handelt sich dabei um eine aus allen Kulturen zusammengemischte Bewegung, der zufolge alles erlaubt ist, Dogmen nicht respektiert werden müssen und in der die Menschen den absurdesten Vorstellungen aus der Vergangenheit auf den Leim gehen. Skrupellose Menschen wie diese Frau versuchen, schwachen und verführbaren Geistern ihre falschen Vorstellungen einzuflüstern, und haben dabei nur finanziellen Gewinn und persönliche Macht im Sinn.«