Der deutsche Historiker Franz Herbert, der sich zur Zeit am Goethe-Institut in London aufhält, sieht das anders. »Die etablierten Religionen geben keine Antworten mehr auf die Grundfragen des Menschen – wie der nach seiner Identität und dem Sinn des Lebens.
Stattdessen konzentrieren sie sich auf eine Reihe von Dogmen und Normen, die vor allem die soziale und politische Organisation im Blick haben. Daher brechen Menschen in ihrer Suche nach wahrer Spiritualität zu neuen Ufern auf. Das bedeutet zweifellos eine Rückkehr in die Vergangenheit und zu primitiven Kulten, bevor auch diese Kulte von den Machtstrukturen angesteckt werden.«
Auf der zuständigen Polizeiwache wurde uns von Sergeant William Morton gesagt, daß die Gruppe um Sherine Khalil, falls sie beschließen sollte, am nächsten Montag ihr Treffen stattfinden zu lassen, und sich bedroht fühlen sollte, schriftlich Polizeischutz beantragen könnte, um so weitere Zwischenfälle zu vermeiden.
(Reportage: Andrew Fish, Foto: Mark Gillhem)
Heron Ryan, Journalist
Diese Reportage habe ich im Flugzeug auf dem Rückflug von der Ukraine gelesen. Ich war über den Artikel erschrocken. Die Fotos zeigten ein paar zerschlagene Schaufenster, einen aufgebrachten Reverend und – da lag die Gefahr – eine schöne Frau mit feurigen Augen, die ihren Sohn umarmt hielt. Mir war sofort klar, welche Folgen dieses Ereignis haben könnte, und ich bin wegen meiner bösen Vorahnungen direkt vom Flughafen in die Portobello Road gefahren, wo am selben Abend das nächste Treffen stattfinden sollte.
Das Treffen war das bisher größte: Es kamen viele Bewohner des Viertels, ein paar Neugierige, um die in dem Artikel erwähnte geheimnisvolle Frau zu sehen, andere mit Plakaten für Religions-und Meinungsfreiheit. Da nicht mehr als zweihundert Personen in den Speicher paßten, drängte sich die Menge auf dem Bürgersteig und versuchte wenigstens einen Blick auf diese Frau zu erhaschen, die die >Priesterin der Unterdrückten< zu sein schien.
Als sie kam, wurde sie mit Beifall empfangen. Einige steckten ihr Kärtchen zu, auf denen sie sie um Hilfe baten. Andere warfen Blumen, eine Dame unbestimmten Alters bat Athena, ihren Kampf für die Freiheit der Frauen, für das Recht, die Große Mutter zu verehren, fortzusetzen.
Die Menschenmenge hatte die Gemeindemitglieder des Reverend Buck, die in der Woche vorher gekommen waren, offensichtlich eingeschüchtert. Sie waren trotz der Drohungen, die sie in den vorangegangenen Tagen ausgestreut hatten, nicht gekommen. Es gab keine Übergriffe, und die Zeremonie verlief wie gewohnt – erst kam der Tanz, dann offenbarte sich Hagia Sophia (damals wußte ich bereits, daß sie nur eine Seite von Athena war), es folgte die Schlußfeier (die erst kürzlich angefügt worden war, als die Gruppe in den Speicher umgezogen war, den eines der ersten Gruppenmitglieder ihr zur Verfügung gestellt hatte), und das war's.
Mir fiel auf, daß Athena während der Predigt besessen wirkte:
»Wir haben der Liebe gegenüber nur eine Verpflichtung: ihr zu erlauben, daß sie sich in der Weise zeigt, die sie für richtig hält. Wir dürfen nicht erschrecken, wenn die Kräfte der Finsternis sich Gehör verschaffen wollen, diejenigen, die das Wort >Sünde< eingesetzt haben, um unser Herz und unseren Verstand zu kontrollieren.
Was ist Sünde? Jesus Christus, den wir alle kennen, wandte sich an die Ehebrecherin und sagte: >Hat dich niemand verdammt?< Sie antwortete: >Niemand, Herr.< Und Jesus sprach: >So verdamme ich dich auch nicht.< Er heilte am Sabbat, erlaubte einer Prostituierten, seine Füße zu waschen, lud einen der Verbrecher, die mit ihm gekreuzigt wurden, ein, die Freuden des Paradieses mit ihm zu teilen, er aß verbotene Nahrungsmittel. Er sagte, wir sollten uns nur um den heutigen Tag sorgen, denn die Lilien auf dem Felde würden nicht weben und spinnen, sich aber mit Herrlichkeit kleiden.
Was ist Sünde? Sünde heißt verhindern, daß sich die Liebe offenbart. Und die Große Mutter ist Liebe. Wir befinden uns in einer neuen Welt, wir können wählen, ob wir unseren eigenen Schritten folgen wollen statt denen, die die Gesellschaft uns aufgezwungen hat. Wenn es notwendig sein sollte, werden wir uns noch einmal den Kräften der Finsternis stellen, wie wir es in der letzten Woche getan haben. Aber niemand wird unsere Stimme oder unser Herz zum Schweigen bringen.«
Ich erlebte mit, wie sich eine Frau in eine Ikone verwandelte. Sie redete über all das voller Überzeugung und mit Würde. Ich hoffte inständig, daß es sich wirklich so verhielt, daß wir wirklich am Beginn einer neuen Welt standen und ich dies miterleben würde.
Ihr Auszug aus dem Speicher war so erhebend wie ihr Einzug. Als Athena mich in der Menge sah, rief sie mich zu sich und meinte, sie habe mich in der vorangegangenen Woche vermißt. Sie war fröhlich, selbstsicher und überzeugt davon, daß das, was sie tat, richtig war. Das war die positive Wirkung des Zeitungsartikels, aber ich bezweifelte, daß diese überwiegen würde. Drei Tage später wurden meine Befürchtungen bestätigt: Die andere Seite schlug jetzt zu.
Über eine der renommiertesten und konservativsten Anwaltskanzleien des Königreichs, deren Leiter – und nicht Athena – Kontakte zu allen Regierungskreisen hatte, und indem er die veröffentlichten Erklärungen nutzte, ließ Reverend Buck eine Pressekonferenz einberufen, um mitzuteilen, daß er einen Prozeß wegen Diffamierung, übler Nachrede und Rufschädigung angestrengt habe.
Der Redaktionsleiter rief mich zu sich: Er wußte, daß ich mit der Hauptperson dieses Skandals befreundet war, und schlug mir ein Exklusivinterview mit ihr vor. Meine erste Reaktion war Empörung: Es kam nicht in Frage, daß ich diese freundschaftliche Beziehung dazu mißbrauchte, die Auflage der Zeitung zu erhöhen.
Aber nachdem wir uns ein wenig darüber unterhalten hatten, fand ich die Idee gar nicht so schlecht: Athena bekäme Gelegenheit, ihre Version der Geschichte zu präsentieren. Ich könnte sogar das Interview als Unterstützung für ihren Kampf nutzen, den sie jetzt offen führte. Ich verließ das Büro des Redaktionsleiters mit einem Plan, den wir beide ausgearbeitet hatten: Es sollte eine Serie von Reportagen über neue gesellschaftliche Tendenzen und die aktuellen Veränderungen der religiösen Sinnsuche geben. Für eine dieser Reportagen würde ich Athena interviewen.
Noch am selben Nachmittag ging ich zu ihrer Wohnung. Schließlich hatte sie mich eingeladen, als sie den Speicher verlassen hatte. Von Nachbarn erfuhr ich, daß am Tag zuvor Gerichtsdiener gekommen seien, um ihr eine Vorladung auszuhändigen, sie aber auch nicht angetroffen hätten.
Ich rief sie später noch einmal an, erreichte sie aber wieder nicht. Ich versuchte es am frühen Abend erneut, doch keiner ging ans Telefon. Von da an habe ich jede halbe Stunde angerufen, und meine Angst wuchs mit jedem Anruf. Seit Hagia Sophia mich von meiner Schlaflosigkeit geheilt hatte, trieb mich die Müdigkeit normalerweise nachts um elf ins Bett, aber dieses Mal hielt mich die Angst wach.
Ich fand die Telefonnummer ihrer Mutter im Telefonbuch. Aber es war schon spät. Wenn Athena nicht dort war, würde ihre Familie sich Sorgen machen. Was sollte ich tun? Ich stellte den Fernseher an, um zu sehen, ob etwas passiert war – nichts Besonderes, London zeigte sich wie immer – mit all seinen schönen und häßlichen Seiten.
Ich beschloß, einen letzten Versuch zu unternehmen. Nachdem es dreimal geklingelt hatte, nahm jemand ab. Ich erkannte sofort Andreas Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Was willst du?«, fragte sie.
»Athena hat mich gebeten, vorbeizukommen. Ist alles in Ordnung?«
»Selbstverständlich ist alles in Ordnung, oder nichts ist in Ordnung, je nachdem, wie du es sehen möchtest. Aber ich glaube, du könntest helfen.«