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»Und weißt du, was ich in jenem Augenblick gefühlt habe? Daß die Heilige Jungfrau zu mir sprach. Und sie sagte: >Hör mir zu, Samira, ich habe auch so gedacht. Ich habe viele Jahre lang gelitten, weil mein Sohn nicht auf das hörte, was ich ihm sagte. Ich war um seine Sicherheit besorgt. Ich fand, daß er seine Freunde falsch aussuchte, daß er die Gesetze, die Bräuche, die Religion, die Alten überhaupt nicht achtete.<

Soll ich den Rest auch erzählen?«

»Ich glaube, ich weiß, was du sagen willst. Aber ich würde es dennoch gern hören.«

»Die Heilige Jungfrau fuhr dann fort: >Aber mein Sohn hat nicht auf mich gehört. Und heute bin ich sehr froh darüber.<«

Ich hob ihren Kopf zärtlich von meiner Schulter und stand auf.

»Ihr müßt jetzt etwas essen.«

Ich ging in die Küche, bereitete eine Zwiebelsuppe zu, einen Teller Tabuleh und wärmte das ungesäuerte Brot auf. Dann stellte ich alles auf den Tisch, und wir aßen gemeinsam. Wir redeten über unwichtige Dinge, die uns in solchen Augenblicken zusammenbringen und uns helfen, ruhig zu bleiben, auch wenn draußen der Sturm schon die Bäume ausreißt und Zerstörung sät.

Selbstverständlich würden meine Tochter und mein Enkel abends wieder durch diese Tür hinausgehen, um sich erneut dem Wind, dem Donner, den Blitzen zu stellen – aber das war ihre Wahl.

»Mama, du hast gesagt, du würdest alles für mich tun, nicht wahr?«

»Selbstverständlich stimmt das. Notfalls würde ich sogar mein Leben hingeben.«

»Findest du nicht, daß ich mehr für Viorel tun sollte?«

»Ich glaube, das sagt dir dein Instinkt. Aber es hat nicht nur mit Instinkt zu tun, sondern mit Liebe.«

Sherine aß weiter.

»Du weißt, daß ein Verfahren gegen dich eingeleitet wurde und daß dein Vater dir in dem Verfahren helfen will – wenn du einverstanden bist.«

»Natürlich bin ich einverstanden. Wir sind doch eine Familie!«

Ich überlegte es mir, einmal, zweimal, doch dann konnte ich nicht anders: »Darf ich dir einen Rat geben? Ich weiß, daß du wichtige Freunde hast. Ich meine diesen Journalisten. Warum bittest du ihn nicht darum, deine Geschichte zu veröffentlichen, so daß deine Version der Fakten bekannt wird? Die Presse gibt diesem Reverend zu viel Raum.«

»Du akzeptierst also nicht nur, was ich tue, sondern willst mir auch helfen?«

»Ja, Sherine. Auch wenn ich dich nicht verstehe, auch wenn ich manchmal leide, wie die Heilige Jungfrau in ihrem Leben gelitten haben wird, auch wenn du nicht Jesus Christus bist und der Welt eine große Botschaft zu geben hast, bin ich an deiner Seite und will, daß du dein Ziel erreichst.«

Heron Ryan, Journalist

Ich war gerade damit beschäftigt, mir Notizen zu den Ereignissen in der Portobello Road und zur Wiedergeburt der Mutter-Gottheit zu machen. Ich mußte mir Mühe geben mit diesem Interview, denn es würde nicht einfach sein, ein so schwieriges Thema seriös zu behandeln.

Vor meinem geistigen Auge erschien eine Frau, die sagte:

»Ihr könnt es. Tut, was die Große Mutter lehrt – vertraut in die Liebe, und die Wunder werden geschehen.« Und die Menge in der Portobello Road hatte es begriffen. Doch wie lange würde das gutgehen? Schließlich lebten wir in einer Zeit, in der die Menschen glaubten, das Glück nur finden zu können, indem sie sich versklavten, weil sich frei zu entscheiden bedeutet, zu handeln und Verantwortung zu übernehmen – und das macht Angst.

In diesem Augenblick trat Athena ein. »Ich möchte, daß Sie etwas über mich schreiben«, bat sie.

Ich entgegnete, es wäre zu ihrem Schutz besser, wenn wir noch etwas warten würden. Der Vorfall würde in einer Woche die Öffentlichkeit nicht mehr interessieren, und die Aufregung hätte sich dann gelegt.

»Im Augenblick interessieren sich nur das Viertel selber und die Sensationsblätter für den Streit und den Skandal. Keine angesehene Zeitung hat auch nur eine Zeile darüber veröffentlicht. Zudem glaube ich, daß es nicht unbedingt ratsam ist, den Konflikt weiter zuzuspitzen. In London gibt es jede Menge dieser Art von Konflikten. Es wäre besser, wenn sie die Treffen mit ihrer Gruppe zwei oder drei Wochen lang aussetzen würden.

Die Geschichte mit der Göttin allerdings könnte, wenn sie mit der notwendigen Seriosität behandelt würde, viele Leute dazu anregen, sich ein paar entscheidende Fragen zu stellen.«

»Es ist nicht lange her, da haben Sie mir bei einem Abendessen eine Liebeserklärung gemacht. Und jetzt verweigern Sie mir nicht nur Ihre Hilfe, sondern bitten mich zudem noch, die Dinge aufzugeben, an die ich glaube?«

Was unterstellte sie mir da? Hatte sie meine Liebe, die ich ihr offenbart hatte und die mich jede Minute des Tages beseelte, etwa nicht angenommen? Der libanesische Dichter hatte gesagt, es sei wichtiger zu geben, als zu empfangen. Das waren weise Worte, aber ich war nur ein Mensch – mit meinen Schwächen, meinen Augenblicken des Zögerns, dem Wunsch, meinen Gefühlen nachzugeben, mich hinzugeben, ohne zu fragen, ohne wissen zu wollen, ob diese Liebe erwidert wurde.

Athena brauchte mir doch nur zu erlauben, sie zu lieben, mehr wollte ich nicht. Ich bin sicher, daß Hagia Sophia ganz meiner Meinung sein würde. Athena war jetzt seit fast vier Jahren Teil meines Lebens, und ich befürchtete, daß sie, wenn sie auf ihrem Weg weiterging, am Horizont verschwinden würde. Und ich könnte sie dann auf diesem Teil ihrer Wegstrecke nicht mehr begleiten.

»Sie sagten etwas von Liebe?«

»Ich habe Sie um Ihre Hilfe gebeten.«

Was sollte ich tun? Nüchtern, kühl reagieren, anstatt überstürzt zu handeln und dadurch am Ende alles zu zerstören? Oder sollte ich den Schritt tun, der noch fehlte, sie umarmen und sie vor allen Gefahren beschützen?

»Ich möchte helfen«, antwortete ich, obwohl mein Herz immer weiter sagte: >Mach dir keine Sorgen, ich liebe dich.< »Ich möchte Sie bitten, mir zu vertrauen. Ich würde alles, wirklich alles für Sie tun, Ihnen sogar etwas abschlagen, wenn ich finde, daß es notwendig ist, auch wenn Sie das vielleicht nicht verstehen werden.«

Ich erzählte ihr, daß der Redaktionsleiter mir vorgeschlagen hatte, eine Serie über die Mutter-Gottheit zu schreiben und dafür mit ihr, Athena, ein Interview zu machen. Anfangs hatte ich es für eine ausgezeichnete Idee gehalten, aber jetzt war ich der Meinung, daß es besser war, noch etwas zu warten.

»Entweder Sie führen Ihre Mission fort, oder Sie verteidigen sich. Ich weiß, daß Sie nicht kümmert, was andere über Sie denken. Ihnen ist wichtiger, was Sie tun. Das stimmt doch?«

»Ich denke an meinen Sohn. Er hat in der Schule täglich Probleme. «

»Das geht vorbei. In einer Woche wird niemand mehr darüber reden. Dann ist der Augenblick gekommen zu handeln. Nicht um Sie gegen dumme Angriffe zu verteidigen, sondern um das, was Sie tun, in einem fundierten Artikel darzustellen.

Und falls Sie an meinen Gefühlen zweifeln, entschlossen sind weiterzumachen, dann komme ich mit Ihnen zur nächsten Versammlung. Wir werden dann sehen, was passiert.«

Am folgenden Montag habe ich sie begleitet. Diesmal war ich nicht nur jemand in der Menge, sondern konnte alles aus ihrem Blickwinkel sehen.

Viele Menschen drängelten sich dort, es gab Blumen, Applaus, junge Frauen, die »Priesterin der Göttin« riefen, zwei oder drei gut gekleidete Damen, die wegen eines Krankheitsfalls in der Familie um eine Privataudienz baten. Die Menge begann uns zu schieben, verstellte uns den Eingang zum Getreidespeicher. Weder Athena noch ich hatten an Sicherheitsvorkehrungen gedacht, und ich erschrak. Ich packte sie am Ellenbogen, hob Viorel auf den Arm, und wir gingen hinein.

Drinnen war der Raum schon voll. Andrea erwartete uns aufgebracht.

»Ich glaube, heute mußt du sagen, daß du kein Wunder tun wirst!«, fuhr sie Athena an. »Du läßt dich von Eitelkeit beherrschen! Warum schickt Hagia Sophia diese Leute nicht alle weg ?«