»Weil sie auf die Krankheiten hinweist«, entgegnete Athena herausfordernd. »Und je mehr Menschen das zugute kommt, umso besser.«
Andrea hätte wohl gern noch mehr gesagt, aber die Menge applaudierte, und Athena stieg auf die improvisierte Bühne. Sie stellte den kleinen CD-Player an, den sie von zu Hause mitgebracht hatte. Sie forderte die Menge dazu auf, entgegen dem Rhythmus der Musik zu tanzen. Irgendwann ging Viorel in eine Ecke und setzte sich – das war der Augenblick, in dem sich Hagia Sophia offenbarte. Athena machte das Übliche: Sie stellte unvermittelt den Ton ab, vergrub das Gesicht in den Händen. Die Leute schwiegen, als würden sie einem unsichtbaren Kommando gehorchen.
Das Ritual lief wie immer ab: Fragen über Liebe wurden abgewiesen, aber sie sagte etwas zu Ängsten, Krankheiten und sonstigen persönlichen Problemen. Von dort, wo ich mich befand, konnte ich sehen, daß einige Menschen Tränen in den Augen hatten, andere standen da, als hätten sie eine Heilige vor sich. Erst würde die Abschlußpredigt und dann das Ritual der kollektiven Verehrung der Großen Mutter kommen, und ich überlegte, wie wir ohne viel Aufhebens aus dem Speicher herauskommen könnten. Ich hoffte, Athena würde Andreas Rat folgen und sagen, daß die Anwesenden keine Wunder erwarten sollten. Ich ging schon mal zu Viorel, damit wir es beide rechtzeitig schafften.
Hagia Sophia sagte jetzt:
»Heute werden wir, bevor wir die Versammlung schließen, über Diät sprechen. – Vergesst alle Diäten.«
Diäten? Was sollte denn das jetzt?
»Wir leben, weil wir essen. Aber essen scheint heute zu einem Fluch geworden zu sein. Warum? Was bringt uns dazu, mit vierzig noch die Figur halten zu wollen, die wir als junges Mädchen hatten? Kann man die Zeit anhalten? Nein. Und warum müssen wir dünn sein?«
Ich hörte Murmeln im Publikum.
»Wir müssen es nicht. Wir kaufen Diätbücher, gehen in Fitneßstudios, vergeuden einen sehr großen Teil unserer Kraft damit, die Zeit aufzuhalten, wo wir doch das Wunder feiern sollten, daß wir auf dieser Welt sind. Und anstatt zu überlegen, wie wir besser leben könnten, sind wir von unserem Gewicht besessen.
Vergeßt das alles! Ihr könnt so viele Diätbücher lesen, so viele Übungen machen, wie ihr wollt, euch selbst bestrafen, soviel ihr wollt, aber am Ende bleibt euch nur die Entscheidung zwischen zwei Dingen: Entweder hört ihr auf zu leben, oder ihr werdet zunehmen.
Eßt mäßig, aber eßt mit Lust: Das Böse ist nicht, was in den Mund des Menschen hineingeht, sondern was aus dem Mund herauskommt. Vergeßt nicht, daß wir Jahrtausende lang darum gekämpft haben, nicht zu verhungern. Wer hat sich bloß ausgedacht, daß wir alle unser ganzes Leben lang dünn sein müssen?
Ich werde euch die Antwort geben: die Seelenvampire, diejenigen, die Angst vor der Zukunft haben und glauben, es wäre möglich, das Rad der Zeit anzuhalten. Hagia Sophia versichert euch: Das ist unmöglich. Ernährt euch von geistigem Brot, anstatt Energie und Mühen in eine Diät zu stecken. Begreift, daß die Große Mutter großzügig und weise gibt – respektiert das, und ihr werdet nicht mehr zunehmen als eurem Alter entsprechend.
Anstatt all die Kalorien auf jede nur erdenkliche Art zu verbrennen, versucht sie in die Energie umzuwandeln, die für den Kampf um eure Träume notwendig ist. Niemand ist nur aufgrund einer Diät lange dünn geblieben.«
Es herrschte vollkommene Stille. Athena begann das Schlußritual, alle feierten die Gegenwart der Großen Mutter. Ich hob Viorel auf den Arm und nahm mir vor, das nächste Mal ein paar Freunde mitzubringen, um so etwas wie ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten. Als wir hinausgingen, hörten wir das gleiche Geschrei und den gleichen Applaus wie beim Hineingehen.
Ein Antiquitätenhändler packte mich am Arm:
»Das hier ist doch total verrückt! Wenn die mir eines meiner Schaufenster zertrümmern, zeige ich Sie an!«
Athena lachte, gab Autogramme, Viorel wirkte zufrieden. Ich hoffte, daß an diesem Abend außer mir kein Journalist zugegen gewesen war. Nachdem wir uns schließlich aus der Menge befreien konnten, nahmen wir ein Taxi.
Ich fragte Athena, ob sie und Viorel etwas essen wollten. »Natürlich«, sagte Athena. »Ich habe doch gerade darüber gesprochen.«
Antoine Locadour, Kulturhistoriker
In dieser ganzen Geschichte, in der so vieles schiefgelaufen ist und die unter dem Titel >Die Hexe von Portobello< bekannt wurde, hat mich am meisten die Naivität von Heron Ryan überrascht, immerhin ein langjähriger Journalist mit internationaler Erfahrung. Als wir miteinander sprachen, zeigte er sich entsetzt über die Schlagzeilen der Sensationspresse.
>Die Diät der Göttin< habe eine Zeitung getitelt, hat mir Heron am Telefon erzählt. >Nimm ab, indem du ißt, sagt die Hexe von Portobello< hat angeblich auf der ersten Seite einer anderen gestanden.
Diese Athena hatte nicht nur ein sensibles Thema wie die Religion berührt, sondern sie war offensichtlich noch weiter gegangen: Sie hatte von Diät gesprochen, einem Thema, das augenscheinlich die Menschen noch mehr interessierte als Kriege, Streiks oder Naturkatastrophen. Nicht alle glauben an Gott, aber alle wollen abnehmen.
Heron berichtete weiter, die Reporter hätten lokale Ladenbesitzer interviewt, die versicherten, daß im Getreidespeicher schon an verschiedenen Tagen vor den Montagsversammlungen kleinere Treffen stattgefunden hätten, bei denen rote und schwarze Kerzen gebrannt hätten. Einstweilen beschränkten sich die Artikel offenbar auf billige Sensationslust, aber Ryan hätte voraussehen müssen, daß dies alles letztlich in einem Prozeß vor den britischen Gerichten gipfeln würde. Dabei würde der Kläger keine Gelegenheit auslassen, die Richter zu überzeugen, daß es hier nicht nur um Verleumdung ging, sondern vielmehr um einen Angriff auf alle Werte, die die Gesellschaft aufrechterhielten.
In der Woche nach dem Vorfall las ich in einer der anerkanntesten englischen Zeitungen eine Kolumne von Reverend Ian Buck, dem Pastor der evangelischen Gemeinde von Kensington, in der es in einem Absatz hieß:
»Als guter Christ habe ich die Pflicht, meine andere Wange hinzuhalten, wenn ich ungerechterweise angegriffen werde oder wenn meine Ehre verletzt wird. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, daß Jesus zwar seine andere Wange hingehalten hat, aber auch die Peitsche benutzt hat, um jene zu züchtigen, die das Haus Gottes in eine Räuberhöhle verwandeln wollten. Und genau das erleben wir in diesem Augenblick in der Portobello Road: skrupellose Menschen, die sich zu Seelenrettern erklären, falsche Hoffnungen wecken und Heilungen aller Krankheiten versprechen, die sogar behaupten, man bleibe schlank, wenn man ihre Lehren befolge.
Daher bleibt mir nichts anderes übrig, als die Justiz anzurufen, damit dieser Zustand nicht länger anhält. Die Gefolgsleute dieser Bewegung schwören, daß sie in der Lage sind, nie gesehene Gaben zu erwecken, und negieren die Existenz Gottes des Allmächtigen, indem sie ihn durch heidnische Göttinnen wie Venus oder Aphrodite ersetzen wollen. Für sie ist alles erlaubt, solange es mit >Liebe< getan wird. Was aber ist die Liebe? Eine Kraft ohne Moral, die jeden Zweck rechtfertigt? Oder ein Sich-einlassen auf die wahren Werte der Gesellschaft wie die Familie und die Traditionen?«
»Bei der nächsten Versammlung«, berichtete Ryan weiter, »hat die Polizei, weil sie fürchtete, daß es wieder eine Straßenschlacht wie im August geben könnte, ein halbes Dutzend Beamte abgestellt, die Konfrontationen verhindern sollten. Athena kam in Begleitung von Bodyguards, die er, Ryan, organisiert hatte. Aber diesmal hörte man nicht nur Applaus, sondern auch Schmährufe und Beschimpfungen.
Eine Dame, die sah, daß Athena von einem achtjährigen Jungen begleitet wurde, reichte wenige Tage darauf eine Anzeige bei Gericht ein, die sie mit dem Children Act von 1989 begründete und in der sie vortrug, daß die Mutter dem Kind nicht wiedergutzumachende Schäden zufügte und das Sorgerecht daher dem Vater übertragen werde müsse.