Ich wußte, daß es nichts bringen würde, in Athenas Wohnung anzurufen. Sie hatte Andrea den Schlüssel übergeben, ihre Musikanlage und einen Teil der Kleidung mitgenommen und gesagt, sie werde so bald nicht wiederkommen.
Ich wartete auf ihren Anruf, damit wir ihren Sieg feiern konnten. Mit jedem Tag, der verging, hörte meine Liebe zu Athena auf, eine Quelle des Leidens zu sein, und verwandelte sich in einen See der Freude und Gelassenheit. Ich fühlte mich nicht mehr so allein. Irgendwo im Raum feierten unsere Seelen – die Seelen aller Verbannten, die zurückkamen – voller Freude das Wiedersehen.
Die erste Woche verging, und ich dachte mir, daß Athena vielleicht versuchte, sich von der Anspannung der letzten Zeit zu erholen. Einen Monat später dachte ich dann, daß sie vielleicht wieder zu ihrer Arbeit nach Dubai zurückgekehrt sei.
Ich rief in Dubai an, doch man sagte mir, sie habe nichts von sich hören lassen. Falls ich wisse, wo sie sei, sollte ich ihr bitte ausrichten, daß alle Türen für sie offen stünden und sie allen sehr fehlte.
Ich beschloß, eine Reihe von Artikeln über das Erwachen der Großen Mutter zu schreiben, die zu einigen beleidigenden Leserbriefen führten, in denen ich beschuldigt wurde, >Heidentum zu verbreiten<, aber ansonsten ein riesiger Publikumserfolg waren.
Zwei Monate später, als ich gerade zum Mittagessen gehen wollte, rief mich ein Kollege aus der Redaktion an: Die Leiche von Sherine Khalil, der Hexe von Portobello, sei gefunden worden.
Sie war in Hampstead brutal ermordet worden.
Jetzt, wo ich die Aufnahmen alle transkribiert habe, werde ich sie ihr geben. Sie wird im Augenblick im Snowdonian National Park spazierengehen, was sie jeden Nachmittag tut. Heute ist ihr Geburtstag – besser gesagt das Datum, das ihre Eltern dafür ausgewählt haben, als sie sie adoptiert haben. Dieses Manuskript soll mein Geschenk sein.
Viorel, der mit den Großeltern zur Feier gekommen ist, hat auch eine Überraschung vorbereitet: Er hat im Studio gemeinsamer Freunde seine erste Musik aufgenommen und wird sie während des Abendessens spielen.
Athena wird mich später sicher fragen: »Warum hast du das getan?«
Und ich werde ihr antworten: »Es war mir wichtig, dich zu verstehen.« Während all der Jahre, die wir zusammen waren, hatte ich, was ich über sie gehört hatte, für Legenden gehalten, aber jetzt weiß ich, daß diese Legenden wahr sind.
Immer wenn ich sie begleiten wollte – sei es zu den Montagsversammlungen in ihrer Wohnung, sei es nach Rumänien, sei es zu Treffen mit Freunden –, hatte sie mich gebeten, es nicht zu tun. Wegen meines Berufs würden sich sogar die Unschuldigsten schuldig fühlen, war ihre Begründung gewesen.
Zweimal war ich ohne ihr Wissen im Speicher in Portobello gewesen. Ich habe auch ohne ihr Wissen Leute abgestellt, die sie bewachten, wenn sie dort ankam oder den Speicher verließ – zumindest eine Person, die später als Mitglied einer Sekte identifiziert wurde, war festgenommen worden und trug einen Dolch bei sich. Er behauptete, Geister hätten ihn beauftragt, etwas Blut der Hexe von Portobello, die die Große Mutter offenbarte, zu nehmen, sie würden es brauchen, um bestimmte Opfergaben zu weihen. Er habe sie nicht töten, nur das Blut in einem Taschentuch auffangen wollen. Die Ermittlungen ergaben, daß es sich tatsächlich nicht um einen Mordversuch gehandelt hatte. Dennoch wurde der Mann zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.
Es war nicht meine Idee gewesen, sie für die Welt »zu ermorden« – Athena selber wollte verschwinden und hatte mich gefragt, ob das möglich sei. Ich erklärte ihr, daß ich, wenn das Gericht beschließen würde, ihr das Sorgerecht für ihren Sohn zu entziehen, nichts gegen das Gesetz tun könnte. Aber in dem Augenblick, in dem der Richter zu ihren Gunsten entschieden hatte, waren wir frei, ihren Plan auszuführen.
Athena war bewußt, daß, als die Treffen im Speicher öffentlich bekannt geworden waren, ihre Mission unwiderruflich aus dem Ruder gelaufen war. Es brachte nichts, wenn sie durch die Menge ging und erklärte, sie sei keine Königin, keine Hexe, keine göttliche Verkörperung. Aber das Volk hatte entschieden, wem es die Macht geben und wem es folgen wollte.
Was allerdings dem vollkommen widersprach, was Athena predigte: die Freiheit zu wählen, ohne Pastoren das eigene Brot zu segnen, die eigenen Gaben zu erwecken.
Es brachte auch nichts, einfach zu verschwinden. Die Leute würden darin einen Rückzug in die Wüste, ein Auffahren in den Himmel, eine Reise zu geheimen Meistern sehen, die im Himalaja leben, und würden ständig auf ihre Rückkehr warten. Immer mehr Legenden würden sich um sie ranken, und es könnte sich sogar ein Kult um sie entwickeln. Wir hatten dies bemerkt, als sie aufhörte, in den Speicher in der Portobello Road zu gehen. Meine Informanten sagten, daß der sie betreffende Kult, anders als die meisten vermuteten, sich in erschreckender Weise ausbreitete: andere, ähnliche Gruppen bildeten sich. Frauen behaupteten von sich, die >Erbinnen< von Hagia Sophia zu sein. Ihr in der Zeitung veröffentlichtes Foto, das sie mit Viorel auf dem Arm zeigte, wurde heimlich verkauft. Sie wurde als Opfer, als Märtyrerin der Intoleranz gesehen. Okkultisten begannen von einem Athena-Bund zu sprechen, in dem man nach vorheriger Geldzahlung in Kontakt mit der Gründerin treten konnte.
Daher blieb nur der >Tod. Ein Mord, dessen Opfer in einer großen Stadt jeder werden konnte. Wir mußten ein paar Vorsichtsmaßnahmen treffen:
a)Das Verbrechen durfte nicht mit religiösem Märtyrertum in Verbindung gebracht werden, denn das würde die Lage, die wir vermeiden wollten, nur noch verschlimmern.
b)Das Opfer mußte bis zur Unkenntlichkeit entstellt sein.
c)Der Mörder durfte nicht verhaftet werden.
d)Wir brauchten eine Leiche.
In einer Stadt wie London gibt es täglich Tote, Entstellte, Verbrannte – aber normalerweise verhaften wir am Ende den Täter. Wir mußten daher fast zwei Monate warten, bis der Mord in Hampstead geschah. Auch in diesem Fall haben wir den Mörder gefunden – nur war er tot –, er war nach Portugal gereist und hatte sich mit einem Schuß in den Mund das Leben genommen. Gerechtigkeit war geschehen, und ich brauchte nur noch ein bißchen Mithilfe meiner engsten Freunde. Eine Hand wäscht die andere, und manchmal bitten sie mich um ungewöhnliche Dinge, und sofern kein Gesetz gebrochen wird, gibt es – sagen wir – einen gewissen Ermessensspielraum in der Auslegung.
Folgendes war geschehen: Gleich nach Auffinden der Leiche wurde mir mit einem langjährigen Kollegen zusammen die Aufgabe übertragen, diesen Fall zu bearbeiten. Fast zeitgleich erhielten wir von der portugiesischen Polizei die Nachricht, daß in Guimaräes ein Selbstmörder gefunden worden war, der in einem Brief, den er bei sich trug, Anweisungen gab, seinen Besitz an Wohltätigkeitsorganisationen zu verteilen, und einen Mord gestand, der in allen Einzelheiten mit unserem Fall übereinstimmte. Es war ein Verbrechen aus Leidenschaft gewesen – Liebe fand häufig so ein Ende.
In dem Brief, den er hinterließ, berichtete der Tote, daß er eine Frau aus der ehemaligen Sowjetunion nach England gebracht und alles getan habe, um ihr zu helfen. Er wollte sie heiraten, damit sie alle Rechte einer britischen Staatsbürgerin bekäme, und hatte einen Brief gefunden, den sie an einen Deutschen hatte schicken wollen, der sie eingeladen hatte, ein paar Tage mit ihm in seinem Schloß zu verbringen.
In ihrem Brief hieß es, sie könne es nicht erwarten, ihn wiederzusehen, er möge ihr ein Flugticket schicken. Sie hatten sich in einem Café in London kennengelernt und einander nur zweimal geschrieben.