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Ich bat sie, es sich noch einmal zu überlegen, bevor sie einen so radikalen Entschluß faßte. Sie aber zitierte Robert Frost:

Vor mir lagen zwei Straßen

Ich wählte die am wenigsten begangene

Und das genau machte den Unterschied.

Am nächsten Tag blieb sie den Vorlesungen fern. Bei unserem nächsten Treffen fragte ich

sie, was sie jetzt machen wolle.

»Heiraten und ein Kind bekommen.«

Damit wollte sie mich nicht unter Druck setzen, sondern es war einfach eine Feststellung. Doch ich war zwanzig Jahre alt, sie neunzehn, und ich fand, es sei noch zu früh, um so eine Verantwortung zu übernehmen.

Aber Athena meinte es bitterernst. Ich mußte eine Wahl treffen. Wenn ich mich für das Einzige entschied, was wirklich meine Gedanken beschäftigte – die Liebe zu dieser Frau –, dann würde ich meine Freiheit und alle Wahlmöglichkeiten, die mir die Zukunft versprach, verlieren.

Ehrlich gesagt, fiel mir die Entscheidung überhaupt nicht schwer.

Pater Giancarlo Fontana, 72 Jahre

Selbstverständlich war ich überrascht, als dieses viel zu junge Paar zu mir in die Kirche kam, um mit mir über seine Trauung zu sprechen. Ich kannte Lukas Jessen-Petersen kaum und erfuhr an jenem Tag, daß seine Familie, die dem niederen dänischen Adel entstammte, kategorisch gegen diese Verbindung war. Nicht nur gegen die Ehe, sondern auch gegen die Kirche.

Indem er sich auf tatsächlich unanfechtbare wissenschaftliche Argumente stützte, behauptete Lukas’ Vater, daß die Bibel, auf der die ganze Religion beruhte, in Wirklichkeit kein Buch war, sondern eine Collage aus 66 unterschiedlichen Manuskripten, deren genauen Titel man ebenso wenig kannte wie deren Autoren. Daß von der Niederschrift des ersten bis zu der des letzten Buches mehr Zeit vergangen sei als vom Anfang der christlichen Ära bis zur Entdeckung Amerikas durch Kolumbus. Und daß kein Lebewesen – vom Affen bis hin zu den Vögeln – zehn Gebote braucht, um zu wissen, wie es sich verhalten solle. Allein die Gesetze der Natur sorgten dafür, daß die Harmonie der Welt erhalten bliebe.

Selbstverständlich lese ich die Bibel. Selbstverständlich weiß ich etwas über ihre Entstehungsgeschichte. Die Menschen, die sie geschrieben haben, waren Werkzeuge Gottes; aber ein stärkerer Bund als die Zehn Gebote war der, den Jesus geschlossen hat. Seine Grundlage war die Liebe.

Die Vögel, die Affen, von welcher Kreatur Gottes wir auch immer sprechen, sie gehorchen ihrem Instinkt und tun nur das, wozu sie bestimmt sind. Im Falle des Menschen wird es komplizierter, denn er kennt die Liebe und deren Fallstricke.

Schluß. Ich fange schon an, eine neue Predigt zu entwerfen, wo ich doch über meine Begegnung mit Athena und Lukas sprechen sollte. Während ich mich mit dem jungen Mann unterhielt, der nicht einmal meiner Kirche angehörte, erfuhr ich, daß es außer dem Antiklerikalismus, der in seiner Familie herrschte, noch einen weiteren Grund für die Ablehnung seiner Heirat mit Athena gab: Athena war Ausländerin. Ich hätte seinen Eltern gern eine Bibelstelle zitiert, in der es nicht um Glaubensbekenntnisse, sondern um den gesunden Menschenverstand geht:

Den Edomiter sollst du nicht verabscheuen; er ist dein Bruder. Den Ägypter sollst du auch nicht verabscheuen; denn du bist ein Fremdling in seinem Lande gewesen.

Verzeihung. Ich fange schon wieder an, die Bibel zu zitieren. Ich verspreche, mich ab jetzt zu mäßigen. Nach dem Gespräch mit dem jungen Mann habe ich mindestens zwei Stunden mit Sherine gesprochen – oder Athena, wie sie lieber genannt wurde.

Sie hat mich immer etwas ratlos gemacht. Seit sie regelmäßig zur Kirche kam, schien sie ein ganz klares Ziel zu verfolgen: eine Heilige zu werden. Sie sagte mir, daß sie, was ihr Verlobter nicht wisse, kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges in Beirut eine Vision gehabt habe, ähnlich der der heiligen Therese von Lisieux: Sie habe Blut auf den Straßen gesehen. Nun hätte man dies einem Kindheitstrauma zuschreiben können, Tatsache aber sei, daß solche Visionen, die als. die »kreative Besessenheit vom Heiligen« bekannt seien, mehr oder weniger bei allen Menschen vorkämen. Plötzlich, für den Bruchteil einer Sekunde, fühlten wir, daß unser ganzes Leben gerechtfertigt sei, unsere Sünden vergeben, die Liebe immer stärker werde und daß wir uns dauerhaft verändern.

Aber in solchen Augenblicken haben wir auch Angst. Sich vollkommen der Liebe anheimzugeben, sei sie göttlich oder menschlich, bedeutet, alles aufzugeben, auch das eigene Wohlergehen oder die Fähigkeit, eigene Entschlüsse zu fassen. In Wahrheit wollen wir nicht gerettet werden, wie Gott es sich ausgesucht hat, uns zu retten: wir wollen die absolute Kontrolle über all unsere Schritte behalten, uns unserer Entscheidungen vollkommen bewußt sein, wollen die Gegenstände unserer Verehrung selbst aussuchen.

Mit der Liebe verhält es sich nicht so – sie kommt, nistet sich ein und beginnt, alles zu lenken. Nur wirklich starke Seelen lassen sich mitreißen, und Athena war eine starke Seele.

So stark, daß sie Stunden in tiefer Kontemplation verbrachte. Sie hatte eine besondere musikalische Begabung. Es hieß, sie tanze sehr gut, aber da die Kirche dafür nicht der geeignete Ort ist, brachte sie jeden Morgen ihre Gitarre mit und sang, bevor sie zur Universität ging, eine Zeitlang für die Heilige Jungfrau.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich sie zum ersten Mal gehört habe. Ich hatte bereits die Morgenmesse für die wenigen Gemeindemitglieder gelesen, die im Winter bereit sind, früh aufzustehen, als mir einfiel, daß ich vergessen hatte, das Geld einzusammeln, das sie in den Opferstock getan hatten. Ich ging zurück – und da hörte ich eine Musik, die mich alles mit anderen Augen sehen ließ, als wäre meine Kirche von der Hand eines Engels berührt worden. In einer Ecke spielte eine etwa zwanzigjährige junge Frau ganz versunken Lobeshymnen, den Blick fest auf das Standbild der Heiligen Jungfrau von der Unbefleckten Empfängnis vor sich gerichtet.

Ich ging zum Opferstock. Sie bemerkte mich und unterbrach ihr Spiel. Ich nickte zustimmend und forderte sie damit auf, weiterzuspielen. Dann setzte ich mich auf eine der Bänke, schloß die Augen und hörte zu.

In diesem Augenblick fühlte ich mich ein wenig wie im Paradies. Ein Gefühl »kreativer Besessenheit vom Heiligen« erfaßte mich, und als wüßte die junge Frau, was in meinem Herzen vorging, unterbrach sie ihren Gesang, und ich betete. Dann begann sie wieder zu singen. So wechselten wir uns mehrfach ab.

Mir war bewußt, daß ich etwas Unvergeßliches erlebte – daß dies einer jener magischen Augenblicke war, die wir erst begreifen, wenn sie vorüber sind. Ich befand mich dort, ganz und gar gegenwärtig, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Ich erlebte nur diesen Morgen, diese Musik, diese Sanftheit, das unerwartete Gebet. Ich war ganz Anbetung, Hingabe und von Dankbarkeit erfüllt, am Leben zu sein, froh darüber, daß ich meiner Berufung gefolgt war, obwohl meine Familie dagegen gewesen war. Die Einfachheit der kleinen Kirche, die Stimme des Mädchens, das alles erfüllende Morgenlicht hatten mir einmal mehr gezeigt, daß Gottes Größe sich in den kleinen Dingen offenbart.

Nach einer kleinen Ewigkeit, in der ich viele Tränen vergossen hatte, hörte das Mädchen auf zu spielen. Erst jetzt erkannte ich, daß es ein Mädchen aus meiner Gemeinde war. Von da an waren wir Freunde und wiederholten, sooft wir konnten, das magische Ritual des Betens und Musizierens.

Aber diese Idee mit der Heirat hat mich vollkommen überrascht. Da wir einander schon ganz gut kannten, wollte ich wissen, wie die Familie ihres zukünftigen Mannes sie wohl aufnehmen werde.

»Schlecht. Sehr schlecht.«

Vorsichtig fragte ich sie, ob sie aus irgendeinem Grund heiraten müsse.

»Ich bin Jungfrau. Ich bin nicht schwanger.«