Ich erkundigte mich, ob sie es ihrer Familie schon gesagt habe. Sie sagte, ja, ihre Eltern hätten mit Entsetzen reagiert, die Mutter mit Tränen, der Vater mit Drohungen.
»Wenn ich hierherkomme, um die Heilige Jungfrau mit meiner Musik zu loben, denke ich nicht darüber nach, was die anderen dazu sagen. Ich teile nur meine Gefühle mit ihr. Und solange ich denken kann, war es so. Ich bin ein Gefäß, in dem sich die göttliche Energie offenbaren kann. Und diese Energie bittet mich jetzt, daß ich ein Kind bekomme, damit ich ihm geben kann, was meine leibliche Mutter mir nie gegeben hat: Schutz und Sicherheit.«
»Niemand auf dieser Welt ist sicher«, antwortete ich ihr. Sie habe noch ein langes Leben vor sich, noch viel Zeit, damit sich das Wunder der Schöpfung an ihr offenbare. Aber Athena war fest entschlossen.
»Die heilige Therese hat sich nicht gegen die Krankheit aufgelehnt, die sie befallen hat. Sie hat im Gegenteil darin ein Zeichen von Gottes Herrlichkeit gesehen. Die heilige Therese war sehr viel jünger als ich heute, nämlich fünfzehn Jahre alt, als sie beschloß, in ein Kloster einzutreten. Es wurde ihr verboten, aber das nahm sie nicht hin. Sie bestand darauf, direkt mit dem Papst zu sprechen. Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet? Mit dem Papst sprechen? Und sie erreichte ihr Ziel.
Dieselbe Herrlichkeit bittet mich jetzt um etwas viel Einfacheres und sehr viel Großzügigeres als eine Krankheit – nämlich daß ich Mutter werde. Wenn ich zu lange warte, kann ich meinem Kind keine Gefährtin sein, der Altersunterschied wäre zu groß.«
»Sie wären nicht die Einzige«, beharrte ich.
Aber Athena fuhr fort, als hätte sie mich nicht gehört.
»Ich kann erst glücklich sein, wenn ich denke, daß Gott existiert und mich hört. Aber das allein reicht nicht, um weiterzuleben, denn alles scheint sinnlos zu sein. Ich tue so, als wäre ich fröhlich, und bin es nicht; ich verberge meine Traurigkeit vor meinen Freunden und Angehörigen, damit sie sich nicht um mich sorgen. Kürzlich habe ich sogar über Selbstmord nachgedacht. Abends vor dem Einschlafen führe ich lange Selbstgespräche, bitte darum, daß mich dieser Gedanke wieder verläßt. Selbstmord wäre den anderen gegenüber undankbar, eine Flucht, eine Art, Unglück und Elend über die Welt zu bringen. Morgens komme ich hierher, um mit der Heiligen Therese zu reden, sie zu bitten, mich von den Dämonen zu befreien, mit denen ich nachts rede. Bis heute hat das geklappt, aber ich werde immer schwächer. Ich weiß, daß ich eine Mission habe. Ich habe sie lange abgelehnt, aber jetzt muß ich sie annehmen. Diese Mission ist, Mutter zu werden. Ich mußsie erfüllen. gelingt es mir nicht, Leben in mir wachsen zu fühlen, werde ich das Leben draußen nicht mehr akzeptieren können.«
Lukas Jessen-Petersen, Ex-Ehemann
Als Viorel geboren wurde, war ich gerade zweiundzwanzig geworden. Ich war nun kein Student mehr, der eine ehemalige Kommilitonin geheiratet hat, sondern ein Mann, der für den Unterhalt seiner Familie sorgen mußte und eine große Last auf den Schultern trug. Meine Eltern, die selbstverständlich nicht zur Hochzeit gekommen waren, machten meine finanzielle Unterstützung davon abhängig, daß ich mich von Athena trennte und das Sorgerecht für den Sohn bekam. Genauer gesagt, hatte mein Vater diese Bedingungen gestellt, denn meine Mutter weinte immer nur am Telefon und erklärte mich für verrückt, wollte aber ihren Enkel in den Armen halten. Ich hoffte, daß meine Eltern ihren Widerstand allmählich aufgeben würden, wenn sie sahen, wie sehr ich Athena liebte und daß ich entschlossen war, bei ihr zu bleiben.
Aber sie blieben hart. Also mußte ich jetzt allein für Frau und Kind sorgen. Ich habe mich exmatrikuliert. Darauf erhielt ich einen Anruf meines Vaters, der zugleich drohte und Versprechungen machte: Er sagte, ich würde enterbt, sollte ich so weitermachen, wenn ich aber zurück an die Uni ginge, würde er mich »vorübergehend« unterstützen, wie er sagte. Ich weigerte mich. Als romantischer junger Mensch mußte ich diese radikale Position einnehmen. Ich sagte ihm, ich könne meine Probleme allein lösen.
Bis Viorel geboren wurde, tat Athena alles, damit ich mich selber besser verstand. Und das tat sie nicht über unsere sexuelle Beziehung – die, wie ich gestehen muß, sehr schamhaft war –, sondern durch die Musik.
Später erfuhr ich, daß es Musik gibt, seit es Menschen gibt. Unsere Vorfahren, die von einer Höhle zur anderen zogen, konnten nicht viele Dinge mit sich nehmen, doch die moderne Archäologie hat gezeigt, daß sie, neben dem wenigen, das sie zum Essen brauchten, immer ein Musikinstrument dabeihatten. Die Musik spendet nicht nur Trost und Zerstreuung, sie leistet weitaus mehr: Musik transportiert Ideen. Die Musik, die Menschen hören, kann etwas über diese aussagen.
Wenn ich Athena während ihrer Schwangerschaft tanzen sah, wenn ich hörte, wie sie ihre Gitarre spielte, damit das Baby sich beruhigte und sich geliebt fühlte, begann ich mich von ihrer Sicht der Welt anstecken zu lassen. Als Viorel geboren wurde, haben wir ihm, nachdem wir nach Hause gekommen waren, gleich ein Adagio von Albinoni vorgespielt. Wenn wir uns einmal stritten, half uns die Musik, uns wieder zu versöhnen, obwohl ich zwischen beiden bisher keine Verbindung gesehen hatte.
Aber mit Romantik ließ sich kein Geld verdienen. Da ich kein Instrument beherrschte, konnte ich nicht in einer Bar aufspielen. Schließlich bekam ich eine Anstellung als Praktikant in einem Architekturbüro, in dem ich Statikberechnungen machte. Der Stundenlohn war relativ hoch, daher ging ich morgens früh aus dem Haus und kam abends spät wieder.
Ich sah meinen Sohn kaum – er schlief immer, und ich konnte kaum mit meiner Frau reden oder sie lieben, weil ich ständig erschöpft war. Ich fragte mich nachts immer: Wann wird sich bloß unsere finanzielle Lage verbessern, wann können wir ein sorgenfreies Leben führen? Obwohl ich mit Athena grundsätzlich einer Meinung war, was die Nutzlosigkeit von Diplomen betrifft, so sind doch in einigen Fällen, wie dem Ingenieurwesen, wie in Jura und Medizin, Fachkenntnisse schlicht unerläßlich, wenn wir das Leben anderer nicht in Gefahr bringen wollen. Und ich war gezwungen gewesen, die Ausbildung zu einem Beruf aufzugeben, den ich mir selber gewählt hatte, einen Traum, der mir sehr wichtig war.
Wir begannen heftiger zu streiten. Athena beklagte sich, daß ich mich kaum um das Kind kümmere, daß es einen Vater brauche. Wenn es ihr nur darum gegangen wäre, ein Kind zu bekommen, hätte sie es auch allein aufziehen können. Mehr als einmal stand ich an der Wohnung und ging dann wieder weg, nachdem ich durch die Wohnungstür geschrien hatte, Athena verstehe mich nicht und ich verstehe nicht, wieso ich dieser »Verrücktheit« zugestimmt hätte – mit zwanzig Jahren ein Kind zu haben ohne die minimalen finanziellen Voraussetzungen. Wir schliefen immer seltener miteinander, sei es aus Müdigkeit, sei es, weil wir sauer aufeinander waren.
Ich bekam eine Depression. Ich fand, daß ich von der Frau, die ich liebte, manipuliert worden war. Athena bemerkte meinen immer eigenartigeren Seelenzustand, und anstatt mir zu helfen, konzentrierte sie ihre ganze Energie auf Viorel und die Musik. Ich flüchtete mich in die Arbeit. Hin und wieder redete ich mit meinen Eltern und mußte mir von ihnen die gleiche Geschichte anhören: »Sie hat nur ein Kind bekommen, um dich an sich zu binden.«
Außerdem wurde Athena immer religiöser. Unmittelbar nach der Geburt hatte sie verlangt, daß unser Sohn auf einen Namen getauft wurde, den sie selbst bestimmt hatte: Viorel, ein rumänischer Name. Ich denke, daß außer ein paar Emigranten in England niemand Viorel heißt, aber ich fand das kreativ, und mir war klar, daß sie damit eine seltsame Verbindung mit einer Vergangenheit herstellte, an die sie keine Erinnerung haben konnte – die Tage im Waisenhaus in Sibiu.
Ich versuchte mich in alles zu fügen – aber ich spürte, daß ich Athena wegen des Kindes verlor. Wir stritten immer häufiger, sie fing an zu drohen, sie werde das Haus verlassen, denn sie fand, Viorel bekäme die >negativen Energien< unserer Streitigkeiten ab. Eines Nachts war nach einer weiteren Drohung allerdings ich es, der die Wohnung verließ. Ich wollte wieder zurückkommen, wenn ich mich etwas beruhigt hätte.