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Ich wanderte ziellos durch London, verfluchte das Leben, das ich mir gewählt hatte, den Sohn, auf den ich mich eingelassen hatte, die Frau, die an meiner Anwesenheit kein Interesse mehr zu haben schien.

Ich ging in den erstbesten Pub neben einer U-Bahn-Station und trank vier Whisky. Als der Pub um 23 Uhr schloß, ging ich in einen dieser Läden, die bis in die frühen Morgenstunden geöffnet sind, kaufte noch mehr Whisky, setzte mich auf eine Bank auf einem Platz und trank weiter. Eine Gruppe Jugendlicher kam hinzu. Die jungen Leute wollten, daß ich die Flasche mit ihnen teilte. Ich weigerte mich und wurde verprügelt. Die Polizei kam umgehend, und wir landeten alle auf der Wache.

Ich wurde entlassen, nachdem ich meine Aussage gemacht hatte. Selbstverständlich habe ich niemanden angezeigt, sagte, es habe nur einen lächerlichen Streit gegeben, denn ich hatte keine Lust auf eine Gerichtsverhandlung. Als ich die Polizeiwache verließ, war ich dermaßen betrunken, daß ich auf den Tisch eines Inspektors fiel. Der Mann war sauer, doch anstatt mich wegen Angriffs gegen einen Staatsbeamten festzunehmen, schob er mich hinaus.

Und dort stand einer meiner Angreifer, der sich dafür bedankte, daß ich die Angelegenheit nicht weiter verfolgen wollte. Er meinte, meine Kleidung sei voller Blut und Matsch, ich solle mir neue besorgen, bevor ich nach Hause ging. Anstatt mich auf den Nachhauseweg zu machen, bat ich ihn um einen Gefallen: er möge mich anhören, denn ich müsse unbedingt mit jemandem reden.

Er hörte sich eine Stunde lang meine Klagen an. Tatsächlich sprach ich nicht mit ihm, sondern mit mir selber – mit einem jungen Mann, der das ganze Leben noch vor sich hatte, möglicherweise eine blendende Karriere, eine Familie mit genügend Kontakten, um ihm viele Türen zu öffnen, der aber jetzt eher einem Bettler glich, betrunken, müde, traurig, ohne Geld. Alles wegen einer Frau, die sich nicht einmal für ihn interessierte.

Am Ende meiner Geschichte sah ich die Lage, in der ich mich befand, etwas klarer: ein Leben, das ich im Glauben gewählt hatte, die Liebe könne immer alles retten. Aber das stimmt nicht: Manchmal führt sie uns in den Abgrund, wozu erschwerend hinzukommt, daß wir im Allgemeinen geliebte Menschen mit in den Abgrund reißen. In meinem Fall war ich auf dem besten Weg, nicht nur mein, sondern auch Athenas und Viorels Leben zu zerstören.

In diesem Augenblick habe ich mir wieder einmal gesagt, daß ich ein Mann war, der sich den Herausforderungen würdig stellte, und kein kleiner Junge, der mit einem Silberlöffel im Mund geboren worden war. Ich ging nach Hause. Athena schlief bereits mit dem Baby im Arm. Ich nahm ein Bad, ging wieder hinaus, um die schmutzige Kleidung in den Mülleimer zu werfen, und legte mich merkwürdig ernüchtert ins Bett.

Am nächsten Tag sagte ich, daß ich die Scheidung wolle. Athena fragte, wieso.

»Weil ich dich liebe. Ich liebe Viorel. Ich habe euch dafür verantwortlich gemacht, daß ich meinen Traum, Ingenieur zu werden, aufgegeben habe. Hätten wir etwas gewartet, sähen die Dinge anders aus, aber du hast nur an deine Pläne gedacht – und ich kam darin nicht vor.«

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Athena reagierte, als hätte sie schon darauf gewartet oder als hätte sie es unbewußt provoziert.

Mein Herz blutete, denn ich hoffte, sie würde mich bitten zu bleiben. Aber sie wirkte ruhig, resigniert, nur darum besorgt, das Baby unsere Unterhaltung nicht hören zu lassen. In diesem Augenblick war ich mir sicher, daß sie mich nie geliebt hatte, daß ich nur das Werkzeug für die Verwirklichung des verrückten Traumes gewesen war, mit neunzehn ein Kind zu bekommen.

Ich sagte ihr, sie könne die Wohnung und die Möbel behalten, doch sie weigerte sich: Sie werde eine Zeitlang bei ihren Eltern wohnen, sich eine Arbeit suchen und eine eigene Wohnung mieten. Sie fragte, ob ich Viorel finanziell unterstützen werde. Ich stimmte sofort zu.

Ich erhob mich, gab ihr einen langen letzten Kuß. Ich bestand erneut darauf, daß sie dort wohnen bleiben solle. Sie sagte wieder, sie werde zu ihren Eltern ziehen, sobald sie ihre Sachen gepackt hätte. Ich ging in ein billiges Hotel und wartete jede Nacht darauf, daß sie mich anrufen und bitten würde zurückzukommen, um ein neues Leben anzufangen – ich war sogar bereit, wenn es notwendig sein sollte, das alte Leben wiederaufzunehmen, denn die Entfernung hatte mich erkennen lassen, daß es auf der Welt niemanden und nichts Wichtigeres gab als meine Frau und meinen Sohn.

Eine Woche später kam endlich ihr Anruf. Aber sie sagte mir nur, sie habe alle ihre Sachen mitgenommen und nicht vor zurückzukommen. Nach weiteren zwei Wochen erfuhr ich, daß sie eine kleine Dachwohnung in der Basset Road gemietet hatte, wo sie tagtäglich mit dem Kind auf dem Arm drei Treppen hinaufsteigen mußte. Weitere zwei Monate vergingen, und wir unterzeichneten schließlich die Scheidungspapiere.

Meine wahre Familie war für immer weggegangen. Und die Familie, in der ich aufgewachsen war, empfing mich mit offenen Armen.

Gleich nach unserer Trennung und dem ungeheueren Leid, das ihr folgte, fragte ich mich, ob ich nicht doch eine falsche, inkonsequente Entscheidung getroffen hätte, ob ich nicht in meiner Jugend zu viele Liebesromane gelesen hätte und, koste es, was es wolle, den Mythos von Romeo und Julia noch einmal hatte leben wollen. Als sich der Schmerz allmählich legte – und dafür brauchte es viel Zeit –, begriff ich, daß das Leben mir erlaubt hatte, der einzigen Frau zu begegnen, die ich je würde lieben können. Jeder Augenblick an ihrer Seite hatte sich gelohnt; trotz allem, was geschehen war, würde ich alles wieder genauso machen.

Aber die Zeit heilt nicht nur Wunden, sie zeigte mir noch etwas anderes: Man kann im Leben durchaus mehr als einen Menschen lieben. Ich habe wieder geheiratet, bin mit meiner zweiten Frau glücklich und kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Das heißt aber nicht, daß ich alles verleugne, was ich davor erlebt habe, solange ich nicht beide Erfahrungen miteinander vergleiche: Man kann die Liebe nicht messen wie die Länge einer Straße oder die Höhe eines Gebäudes.

Etwas sehr Wichtiges ist aus meiner Beziehung mit Athena geblieben: ein Sohn, ihr großer Traum, den sie mir vor unserer Heirat offenbart hatte. Ich habe mit meiner zweiten Frau ein weiteres Kind und bin jetzt, anders als vor zwölf Jahren, auf die Höhen und Tiefen der Vaterschaft gut vorbereitet.

Irgendwann einmal, als ich Viorel zu einem Wochenende, das er mit mir verbringen sollte, abholte, habe ich das Thema angesprochen: Ich fragte Athena, warum sie so ruhig geblieben sei, als sie erfuhr, daß ich mich von ihr trennen wollte.

»Weil ich mein ganzes Leben lang gelernt habe, still zu leiden.«

Und erst da umarmte sie mich und weinte all die Tränen, die sie an jenem Tag hätte weinen wollen.

Pater Giancarlo Fontana

Ich sah es ihr an, als Athena wie oft mit dem Baby im Arm zur Sonntagsmesse hereinkam. Ich wußte von den Schwierigkeiten, die beide hatten, doch bis zu jener Woche waren es nichts als die üblichen Streitereien zwischen Eheleuten gewesen, die sie, wie ich hoffte, früher oder später ausräumen würden, denn beide strahlten sehr viel Gutes aus.

Seit einem Jahr kam sie morgens nicht mehr, um auf ihrer Gitarre zu spielen und die Heilige Jungfrau zu loben. Sie kümmerte sich um Viorel, den zu taufen ich die Ehre hatte, obwohl mir auf Anhieb kein Heiliger mit diesem Namen einfällt. Aber sie besuchte jeden Sonntag die Messe, und hinterher, wenn alle gegangen waren, unterhielten wir uns immer. Athena sagte, ich sei ihr einziger Freund. Früher hätten wir das Gebet zu Gott miteinander geteilt, doch jetzt müsse sie die irdischen Schwierigkeiten mit mir teilen.