Danach blickte er sich gelassen um. Der Betrunkene mit der zitternden Klinge stand unverändert da und starrte den Sieger entgeistert an. Allmählich begriff er, was um ihn herum geschehen war.
»König Pest?« entfuhr es ihm, ein zischender, zweifelnder Laut wie der letzte Atemzug eines Sterbenden. Dann wirbelte der Söldner herum und ergriff die Flucht.
Der Mann in Schwarz schleuderte sein Schwert in einem geraden, gezielten Wurf. Es sollte nicht töten, nur aufhalten. Tatsächlich geriet es zwischen die Unterschenkel des Fliehenden, zerschnitt ihm die Haut und ließ ihn schreiend zu Boden poltern. Unweit eines toten Mädchens schlitterte er mit Brust und Gesicht über den blutigen Staub, rollte mit fuchtelnden Armen auf den Rücken und starrte dem Krieger voller Todesangst entgegen.
Der schwarze Ritter blieb breitbeinig vor ihm stehen und hob sein Schwert vom Boden. »Verzeih mir eine Frage«, bat er. Der Helm verwandelte seine Stimme in ein dumpfes, beängstigendes Dröhnen.
Die Lippen des Plünderers bebten, als sie stumme Worte formten. Nichts als heiseres Röcheln drang aus seiner Kehle, rauhes, sinnloses Keuchen. Seine Augen waren groß und weiß wie Schneebälle.
Der Krieger stellte seine Frage, aber es dauerte eine Weile, ehe er eine verständliche Antwort erhielt. Dann rammte er seine Klinge senkrecht und mit beiden Händen in den Brustkorb des Söldners, wartete geduldig, bis kein Leben mehr in ihm war.
Zuletzt rief er sein Roß herbei, schwang sich in den Sattel und führte aus dem Dickicht ein zweites Pferd, das er unweit des Dorfes im Wald entdeckt hatte. Beide lenkte er durch die Furt gen Osten. Die Strömung verwischte alle Hufspuren im Schlamm, und bald darauf war es, als habe weder Mensch noch Tier jemals diesen Weg beschritten.
Jodokus hielt sein Versprechen, wenn auch erst, nachdem Kriemhild ihm den Rest der Nacht über wortreich zugesetzt hatte. Sie war neugierig, war es immer gewesen, doch unter den gegebenen Umständen drängte es sie ganz besonders, die Wahrheit über den buckligen Sänger zu erfahren; sie hoffte, daß es sie vom brennenden Gefühl der Schuld ablenken würde, das ihr die Brust zusammenschnürte. Sie hatte Mühe durchzuatmen, und gelegentlich überkamen sie kurze Anfälle von Schüttelfrost. Zuerst hatte sie geglaubt, es seien die Vorboten der Pest, die sich ihrer bemächtigten, doch dann wurde ihr klar, daß etwas in ihr selbst es war, das sie derart empfinden ließ. Etwas in ihrem Kopf. Der Gedanke an das, was sie getan hatte. Die Fessel ihrer Sünde.
Immer wieder fragte sie sich, ob die Söldner das Dorf schon erreicht haben mochten, und jedesmal hoffte sie, daß den Bewohnern vielleicht Gott, und wenn nicht er, dann der Zufall zur Hilfe kommen würde. Aber sie wußte auch, daß sie sich damit nur selbst belog, und als der Morgen heraufdämmerte, da ahnte sie, daß das Schicksal des Dorfes besiegelt war. Spätestens jetzt würde alles vorüber sein.
Endlich, als der erste Sonnenstrahl ihre Nasenspitzen kitzelte, ergriff Jodokus das Wort. Er begann seine Erzählung, ohne Kriemhild anzusehen, blickte nur verbissen geradeaus, als hoffte er allein dadurch, den Verlauf der Heerstraße zu verkürzen.
»Ich bin kein guter Sänger, fürchte ich, aber auch kein allzu schlechter. Ganz gewiß aber bin ich ein viel besserer Dieb als die meisten anderen meiner Zunft.« Welche Zunft er damit meinte, die der Diebe oder Sänger, ließ er offen; er erwähnte beides, als gehörte das eine ganz selbstverständlich zum anderen.
»Ich werde dir keine meiner Methoden verraten, du hast auch so schon genug Unheil angerichtet«, fuhr er fort, und Kriemhild schenkte ihm einen vernichtenden Blick. »Sag, hast du je vom Dichtermet gehört?«
Sie überlegte kurz, schüttelte dann den Kopf. »Was soll - «
»Der Dichtermet«, unterbrach er sie rasch, »hat einst den Göttern gehört. Wodan selbst zählte ihn zu seinen teuersten Gütern, bis...« Er verstummte, als sei er sich nicht mehr sicher, ob er wirklich fortfahren solle.
»Bis?« fragte Kriemhild beharrlich.
»Nun«, meinte Jodokus gepreßt, »bis ich ihn gestohlen habe.«
Kriemhild lachte leise. »Natürlich.«
Er wirkte weder beleidigt noch sonderlich überrascht. »Mir ist schon klar, daß du mir nicht glaubst.«
»Dann sind wir uns einig.«
»Willst du die Geschichte trotzdem hören?«
»Haben wir etwas Besseres, um uns die Zeit zu vertreiben?« Bis Würzburg war es noch mindestens ein halber Tagesritt, und vorher mußten sie die Straße verlassen, um die Stadt zu umgehen. Von dort aus würden sie weitere zwei Tage brauchen, um Salomes Zopf zu erreichen. Mit ein paar Geschichten, mochten sie auch noch so versponnen sein, würde die Zeit ein wenig schneller vergehen.
Jodokus schien die Tatsache, daß Kriemhild ihm kein Wort glaubte, nicht zu stören. Mit fester Stimme setzte er seine Erzählung fort. »Es tut nichts zur Sache, wie es mir gelang, an den Dichtermet heranzukommen. Es war nicht einfach, ganz bestimmt nicht, aber, um ehrlich zu sein, auch lange nicht so schwer, wie man vermuten möchte. Fest steht, ich brachte ihn an mich, und die Götter zürnen mir dafür.«
»Warum schicken sie nicht einfach einen Blitz herab, der dich in Asche verwandelt?« fragte Kriemhild schmunzelnd. »Warum fahren nicht die Furien vom Himmel und reißen dich in Stücke?« Sie schüttelte lachend den Kopf. »Komm schon, Jodokus, du mußt überzeugender schwindeln, um mich hereinzulegen.«
»Du bist Christin, nicht wahr?«
»Sicher. Ganz Worms ist christlich.«
»Dann glaubst du nicht an die alten Götter?«
»Ich bin nicht so dumm, sie offen zu verleugnen, wenn du das meinst.« Sie legte den Kopf schräg und überdachte ihre Wortwahl. »Sagen wir, ich kann verstehen, warum die Menschen jahrtausendelang zu ihnen gebetet haben.«
»Viele tun es auch heute noch.«
»Natürlich. Sogar der König zeigt Verständnis dafür, weshalb also sollte ich es nicht tun?«
»Dann weißt du auch, daß die Götter das Spiel lieben. Denn genau das tun sie: Sie spielen mit mir.« Er klang plötzlich gar nicht mehr so gelöst wie noch vor wenigen Augenblicken. »Sie wissen, daß ich es war, der ihnen den Dichtermet stahl, und sie lachen mich aus dafür. Ich, Jodokus der Sänger, bin der niederste ihrer Narren, der traurigste ihrer Scherzbolde und das einsamste unter den Wesen der Welt.«
»Du rührst mich zu Tränen.« Was für ein Unfug, dachte sie bei sich. »Erzähl mir lieber vom Dichtermet.«
»Das ist eine andere Geschichte.«
»Jeder gute Erzähler schätzt die Geschichte in der Geschichte, sagt meine Mutter immer.« Die Erinnerung an die Königinmutter Ute tat weh; seit ihrer Flucht aus Worms hatte Kriemhild viel zu selten an sie gedacht, und jetzt fühlte sie sich mit einemmal schuldig deswegen. »Sie sagt, ein gutes Garn besteht wie ein guter Kuchen aus vielen Zutaten, und jede ist eine Geschichte in sich.«
»Deine Mutter ist eine weise Frau.«
»Das muß sie sein.«
»Dann ist sie fraglos auch eine mächtige Frau.«
Kriemhild lachte heiter. »Versuch nicht, mich zu überlisten, Jodokus-der-Dieb-und-Sänger!«
Er schmunzelte und hob abwehrend beide Hände. Dabei ließ er versehentlich die Zügel los, und der lahme Ackergaul wäre beinahe wie ein Wildpferd mit ihm durchgegangen. Kriemhild lachte noch lauter über sein Ungeschick, und als Jodokus das Tier wieder im Griff hatte, fiel er mit in ihr Gelächter ein.
Schließlich aber, nachdem beide sich beruhigt hatten, räusperte sich der Sänger und begann: »Einst schufen die Götter einen weisen Mann, den sie Kvasir nannten. Sie sandten ihn aus, um unter Menschen, Zwergen und Alben Vertrauen und Freundschaft zu säen. Bald schon liebte und schätzte man ihn überall auf der Welt. Allein zwei tückische Zwerge, Galar und Fjalar, wollten Kvasirs Weisheit für sich allein, und so lockten sie ihn in eine Falle, schlugen ihm den Kopf ab und fingen sein Blut in einem Kessel auf. Sie gaben Honig dazu und brauten daraus einen Met, wie es zuvor noch keinen gegeben hatte, denn wer davon trank, der wurde ein Dichter oder Weiser.