»Ich habe Angst vor mir selbst«, sagte er so leise, daß die Worte kaum zu hören waren.
Kriemhild lächelte fahrig. »Und ich dachte schon, du kennst wirklich keine Angst.«
Er schüttelte den Kopf, sagte aber nichts darauf.
»Also«, meinte sie, »was ist vorhin geschehen?«
»Ich habe nicht mehr gesehen als du.«
»Eher weniger, würde ich sagen. Du hast am Boden gelegen und dir die Augen zugehalten.« Die Bemerkung tat ihr gleich darauf leid. Es war gemein, sich über seine Furcht lustig zu machen. Aber was tat er auch so geheimnisvoll?
»Vielleicht sollten wir uns trennen«, sagte er bedrückt. »Es ist gefährlich, an meiner Seite zu reisen.«
»Es ist gefährlich, mir zu Salomes Zopf zu folgen«, entgegnete sie.
»Was willst du dort überhaupt?«
»Später«, sagte sie. »Erst sagst du mir, was du weißt.«
Er seufzte, trat neben sie und betrachtete die Hütten. »Ich habe dir gesagt, was es ist, das mir folgt.«
»Ja«, bemerkte sie spitz, »die Götter.« Sie machte einen halben Schritt um ihn herum und baute sich mit den Händen an den Hüften vor ihm auf. Ihre Brauen waren zwei steile, dunkle Striche. »Ich will die Wahrheit wissen.«
»Es ist die Wahrheit.« Damit ließ er sie stehen und ging langsam auf die Ansiedlung am Waldrand zu. Niemand zeigte sich. Mittlerweile war es zu dunkel, um jenseits der vorderen Hüttenreihe noch etwas zu erkennen. Nirgendwo brannte ein Feuer, nicht einmal Kerzen.
Kriemhild blickte ihm fassungslos nach, dann setzte sie sich in Bewegung, um aufzuholen. Plötzlich fiel ihr etwas ein. »Wir müssen die Pferde suchen!«
»Vergiß die Pferde.«
»Aber -«
»Sie sind fort«, unterbrach er sie barsch. »Wir werden sie nicht finden. Das gehört zum Spiel.«
»Zum Spiel, zum Spiel«, ahmte sie ihn verärgert nach. »Sag mir endlich -«
Er fuhr ruckartig herum, noch bevor er die äußeren Hütten erreichte. »Sie spielen mit mir. Oder um mich. Weiß der Teufel nach welchen Regeln. Sie jagen mich, sie zerbrechen mich, aber sie tun mir nichts zuleide. Noch nicht.«
Da war etwas in seinen Augen, das sie zum ersten Mal zaudern ließ. Und wenn das, was er sagte, doch die Wahrheit war? Oder wenigstens ein Teil der Wahrheit? Wenn er wirklich verfolgt wurde, von wem auch immer?
»Gut«, sagte sie fest, und hoffte, daß es das Richtige war, »ich glaube dir. Ein wenig, zumindest.«
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die deutlich machte, daß er ihren Worten nicht traute. »Tu, was du willst. Aber du solltest nicht dort im Freien herumstehen. Es wird gleich von neuem losgehen.«
Kriemhilds Körper versteifte sich. Ein Stein schien von ihrer Brust hinab in den Magen zu sacken. »Sie kommen wieder?« preßte sie tonlos hervor.
Er nickte ungerührt. »So ist es jedesmal. Auf jeden Zug folgt ein Gegenzug.«
Jetzt beeilte sie sich, mit weiten Schritten an seine Seite zu gelangen. »Gegenzug?« Sie packte seine Schulter und zog ihn herum. »Sie hätten uns doch vorhin schon töten können, wenn sie es gewollt hätten.« Wer immer sie waren, fügte sie im stillen hinzu.
»Sie sind vertrieben worden.«
»Von wem?«
»Von einem der Gegenspieler.«
Ganz allmählich begann sie zu begreifen. »Du willst damit sagen, daß es -«
»Mehrere Spieler gibt, ganz genau. Stell es dir vor wie eine Reihe von Leuten, die rund um eine Arena sitzen. Am Boden der Arena läuft eine kleine Maus umher, kreuz und quer, in Panik. Und jeder, der auf den Rängen sitzt, gebietet über eine Katze. Alle Katzen werden zugleich in die Arena gelassen. Keine gönnt der anderen die Maus. Immer, wenn eine Katze der Maus zu nahe kommt, vielleicht schon mit den Krallen nach ihr ausholt, kommt eine zweite Katze heran und verjagt die erste. Dann setzt die zweite Katze zum Schlag an, und vielleicht wird sie die Maus erwischen, vielleicht aber wird auch sie selbst in die Flucht geschlagen, und eine dritte Katze nimmt ihren Platz ein. Der, dessen Katze die Maus am Ende frißt, ist der Sieger.«
»Die Maus bist du«, flüsterte Kriemhild und schauderte, nicht sicher, ob das, was er sagte, ihr solche Furcht einjagte, oder vielmehr das wirre Flackern in seinen Augen. »Und die Wesen auf den Rängen sind... Götter?« Sie lachte auf, nahe an einer Hysterie; sie fand, daß sie schon genauso wahnsinnig klang wie Jodokus. »Das ist das Verrückteste, das ich in meinem ganzen Leben gehört habe.«
Er rümpfte verächtlich die Nase. »Wie verrückt sind denn die Dinge, die einem wohlbehüteten Fräulein wie dir hinter seinen Turmmauern und Seidenschleiern zu Ohren kommen?«
Sie ließ sich auf keinen weiteren Streit mit ihm ein. Der Schrecken über das, was ihnen bevorstehen mochte, saß viel zu tief, als daß sie seine kindischen Sticheleien noch hätte ernstnehmen können.
»Was können wir tun?« fragte sie mit schwankender Stimme.
»Erst einmal müssen wir von dieser Lichtung verschwinden.«
»Aber wenn es tatsächlich Götter sind, die es auf dich abgesehen haben, wird sie ein Hüttendach oder ein Baum kaum aufhalten.«
»Nein«, gab er kühl zurück. »Aber ein Dach oder Baum gibt mir zumindest das Gefühl, ein wenig sicherer zu sein.«
Damit trat er an die erste Hütte und blickte durch ein offenes Fenster hinein.
Kriemhild ging derweil zu einem anderen Gebäude, klopfte an die Tür und erhielt keine Antwort.
»Niemand da!« rief Jodokus ihr zu. »Ich wette, die Hütten sind alle leer.«
Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf etwas, das sich am Rande der Ansiedlung befand und bislang von Bauten verdeckt worden war. In der Finsternis vermochte Kriemhild dort nicht mehr als eine große dunkle Form auszumachen, vielleicht ein weiteres Gebäude oder...
»Ein Totenfeuer«, sagte Jodokus. »Dort haben sie ihre Kranken verbrannt. Der Rest ist wahrscheinlich nach Westen geflohen.«
Kriemhild ging langsam auf den unförmigen Umriß zu und bemerkte im Näherkommen einen durchdringenden, widerlichen Geruch, stärker noch als der Verwesungsgestank, der ihr seit dem Gasthaus zu folgen schien. Zugleich entdeckte sie zwischen verkohltem Holz und Asche die Überreste menschlicher Körper. Ausgeglühte Rippenkäfige, Arm- und Beinknochen, dazwischen einige Schädel. Der Totenberg überragte sie um Haupteslänge.
Angeekelt wandte sie sich ab. »Wir werden uns die Pest holen, wenn wir länger hier bleiben«.
Jodokus hob im Dunkeln die Schultern. »Ich werde nicht krank.«
Ihr Tonfall klang viel bitterer, als sie beabsichtigt hatte: »Ihr Spielzeug ist den Göttern zu wichtig, um es an der Seuche verrecken zu lassen, nicht wahr?«
»Nicht zu wichtig. Zu amüsant.«
Kriemhild beeilte sich, zur anderen Seite der Ansiedlung zu laufen, dort, wo die Hütten zwischen die Stämme des Waldes gebaut waren. Bevor sie unter das raschelnde Blätterdach trat, schaute sie noch einmal zum Himmel empor. Keine Spur von göttlichen Todesengeln. Vielleicht war das, was ihnen im Hohlweg begegnet war, doch nichts weiter als eine kräftige Windhose gewesen. Der Ausläufer eines Sturms, vielleicht.
»Ohne Pferde werden wir Salomes Zopf niemals erreichen«, murmelte sie.
Jodokus war nahe genug, um die Worte zu hören. »Warum hast du es so eilig, dorthin zu kommen? Salomes Zopf ist ein schlechter Ort. Nichts für ein Edelfräulein wie dich.«
»Hör schon auf damit!« fuhr sie ihn zornig an. »Ich weiß, daß du nichts von mir hältst, nur weil ich ein Eßbesteck benutzen kann und mir von Zeit zu Zeit die Haare bürste. Mir soll’s recht sein. Aber es ist wirklich nicht nötig, mir deine Meinung ständig um die Ohren zu hauen.«
Einen Augenblick wirkte er betroffen. »Ich wollte dir nicht weh tun.«
»Dann halt endlich den Mund.«
Er sah sie in der Finsternis an, aber sie konnte kaum mehr als seine Silhouette vor dem blassen Schein der Lichtung erkennen. »Wirst du mir trotzdem von Salomes Zopf erzählen?«