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Während sie tiefer in den Wald hineingingen und kaum mehr die Hand vor Augen sehen konnten, sagte Kriemhild: »Salomes Zopf ist eine Bergkette östlich von hier.«

»Ich weiß. Man erzählt sich üble Geschichten darüber. Was aber hast du dort zu suchen?«

»Die alte Berenike lebt dort. Ich muß mit ihr sprechen.«

Sogar im Nachtdunkel bemerkte sie, wie er zusammenfuhr. »Die Erzhexe? Du willst freiwillig mit der Erzhexe sprechen?«

»Ja.«

»Niemand weiß, ob sie wirklich existiert.«

»Ich schon.«

»Woher solltest du das wohl wissen?«

»Fang nicht schon wieder damit an.«

»Nein, im Ernst: Woher weißt du, daß sie mehr ist als ein Schreckgespenst, mit dem Mütter ihren Kindern drohen?«

»Ich hab sie gesehen.«

Das verschlug ihm die Sprache, und so setzte sie möglichst gelassen hinzu: »Und ich habe schon einmal mit ihr gesprochen.«

Tatsächlich war die ehrwürdige Berenike vor wenigen Jahren zu Gast im Wormser Königsschloß gewesen - entgegen erheblicher Einwände der Priesterschaft und aller Würdenträger. Berenike selbst hatte Kriemhild erklärt, daß ihr das Bild, das die Menschen von ihr hatten, äußerst genehm sei; denn, so hatte sie kichernd verkündet, auf diese Weise falle niemandem ein, ihren Frieden zu stören.

In der Tat war es so, daß alle Welt es vermied, in die Nähe von Salomes Zopf zu geraten. Selbst die fahrenden Händler, immer auf den schnellsten Weg bedacht, machten einen weiten Bogen um die Berge. Allein der Name der Hexe löste bei den meisten haltloses Grauen aus.

Nach Worms war sie auf Einladung der Königinmutter Ute gekommen, gegen den ausdrücklichen Wunsch Gunthers und seiner Berater. Die meisten hatten Utes Ansinnen nicht allzu ernst genommen, da sie die Hexe ohnehin für eine Legende hielten. Doch den wenigen, die es besser wußten, sträubten sich die Haare bei dem Gedanken, sie in der Nähe der Krone zu wissen.

Aber Ute war eine eigenwillige Frau und ihr Einfluß auf Gunther nicht zu unterschätzen. Auch war sie manch Übersinnlichem sehr zugetan, vor allem aber der Macht der Träume, und Berenike galt als eine, die jeden Traum zu deuten wußte. Utes Wunsch war es, von ihr zu lernen, und sie vertraute darauf, daß nicht einmal die sagenumwobene Erzhexe eine Einladung an den königlichen Hof ausschlagen würde.

Tatsächlich sollte Ute recht behalten. An einem eisigen Wintermorgen, als der Schnee so hoch lag, daß kein Reiter sich ins Freie wagte, stand die Hexe plötzlich vor dem Tor, ganz allein, nur auf einen Stab gebeugt, wie aus dem Nichts erschienen. (Ein Wachmann verfolgte ihre Fußabdrücke im Schnee bis zurück zum Rheinufer, was ein Erscheinen auf magischem Wege widerlegte. Offen blieb allerdings, wie sie ohne Boot die eiskalten Fluten überquert hatte.)

Manche munkelten, Berenike unterhielte in einem unwegsamen Tal von Salomes Zopf eine Hexenschule, wo sie junge Mädchen zu Gespielinnen Beelzebubs heranzog. Das war wohl einer der Hauptgründe, weshalb König Gunther seiner Schwester Kriemhild jedes Gespräch mit der Hexe verboten hatte. Nicht einmal Ute vermochte dagegen Einwände zu erheben.

Natürlich gelang es Kriemhild dennoch, Berenike zu begegnen. Die zahllosen Gerüchte, die durch die Flure des Schlosses geisterten, hatten sie neugierig gemacht. Und so schlich sie in einer Nacht aus ihrer Kammer, um Berenikes Gastgemach aufzusuchen. Als sie eintrat, schien es, als hätte die Erzhexe sie bereits erwartet.

Kriemhild erzählte ihr von einem Traum, den sie gehabt hatte. Darin regnete es Feuer vom Himmel über dem Schloß, und alle Welt lag krank und darbend darnieder.

»Hast du oft solche Träume?« fragte die Alte. Sie trug ein weites Gewand aus schillernden Stoffen, gänzlich formlos, so daß ihr Körper darunter verborgen blieb. Fremdartige Muster waren sichelförmig über ihrer Brust eingestickt. Magische Runen, vermutete Kriemhild und war beeindruckt.

»Ich träume jede Nacht«, gestand Kriemhild. »Oft träumt mir von einem prachtvollen Falken, den ich voller Liebe heranziehe wie mein eigen Fleisch und Blut. Er steigt hoch in den Himmel hinauf und zieht dort seine Kreise. Aber nach einer Weile ist er plötzlich verschwunden, und statt seiner sitzen zwei weiße Adler auf den Spitzen des Münsters und blicken zu mir herab.«

»Haben sie den Falken getötet?«

»Ich weiß es nicht. Es ist, als ob ein Stück des Traumes fehlt. Etwas Wichtiges.«

Berenike lächelte gütig. »Es wird sich finden, glaube mir. Wenn die rechte Zeit gekommen ist, wirst du die Wahrheit über den Falken und die Adler erfahren.«

Kriemhild, die nicht oft über derlei Dinge nachgedacht hatte, zuckte mit den Schultern. »Was aber ist mit meinem anderen Traum?«

Berenike ließ sich mit einem leisen Ächzen auf dem Rand ihrer Bettstatt nieder, doch der Laut wirkte falsch, als wolle sie ihre Erschöpfung nur vortäuschen. »Beschreib mir genau das Feuer, das vom Himmel regnet.«

»Es ist bunt. Anders als bei einem Brand.« Das Dach eines Burgturms hatte einmal in Flammen gestanden, und Kriemhild hatte angstvoll, aber auch fasziniert von ihrem Fenster aus zugesehen, wie der Brand gelöscht worden war. Auch damals waren Funken in den Himmel gestiegen und mit dünnen schwarzen Rauchfahnen wieder zu Boden gesunken. Doch das Feuer in ihrem Traum war anders gewesen. »Es sprüht wie eine Quelle und strahlt wie tausend große Sterne. Manchmal prasselt es wie ein Wasserfall darnieder, und manchmal verhält es beinahe reglos zwischen den Wolken, um sich im nächsten Moment in Luft aufzulösen.«

»Ein Zeichen«, sagte die Hexe nickend, »ganz gewiß.« Sie dachte einen Augenblick lang nach oder tat zumindest so. Bei ihr konnte man nie sicher sein, was wirklich und was schnöder Schein war, heraufbeschworen um ihrer eigenen, rätselhaften Ziele willen. »Und du sagst, du siehst Krankheit und Tod in deinem Traum?«

Kriemhild schüttelte den Kopf. »Ich sehe sie nicht, aber ich kann sie fühlen.« Sie hatte Mühe, ihre Empfindungen in Worte zu kleiden, doch Berenike schien sie auch so zu verstehen.

»Ich habe den Eindruck«, sagte die Alte gewichtig, »das Feuer am Himmel bedeutet, daß dein Gott ein Opfer von dir verlangt. Er offenbart dir seine Herrlichkeit, um dir zu zeigen, daß du seine Erwählte bist.«

Kriemhild wurde bei diesen Worten blaß, und ein Zittern durchlief ihren Körper. »Ein Opfer? Wofür?«

»Um die Plage, die dein Land dereinst heimsuchen wird, zu bezwingen.«

Eine sonderbare Aura schien die Hexe zu umgeben, eine Überzeugungskraft, die beinahe greifbar war. Kriemhild sah plötzlich keinen Grund mehr, ihren Worten zu mißtrauen. Nicht, daß die Alte ihr den eigenen Willen nahm, mitnichten - vielmehr war es, als verstärke die Macht der Erzhexe Kriemhilds Einsicht in Dinge, die den Menschen gemeinhin verborgen blieben. Die Hexe öffnete in ihrem Geist ein Fenster, und jenseits davon lag eine neue, fremdartige Welt voller Wunder. Kriemhild fragte sich unwillkürlich, ob ihre Mutter dasselbe empfunden hatte, als sie Berenike zum erstenmal gegenübergestanden hatte. Plötzlich verstand sie, weshalb Ute so erpicht auf den Besuch der Hexe gewesen war. Es gab so vieles zu lernen, so vieles zu begreifen.

»Wie erkenne ich, wann es soweit ist?« fragte Kriemhild. »Und was werde ich dann tun müssen?«

»Von den Unschuldigen verlangt der Christengott stets das größte Opfer: ihre Unschuld. Komm zu mir, wenn es soweit ist.« Der Blick der Hexe sengte heiß in Kriemhilds Hirn, prägte die Worte in ihren Geist wie Brandzeichen. »Komm zu mir, und ich werde dir den Weg zur Wahrheit weisen.«

»Sie hat dich behext«, sagte Jodokus, als Kriemhild ihren Bericht beendet hatte. »Da gibt es gar keinen Zweifel. Sie hat dir ihren Willen aufgezwungen.«

Kriemhild war empört. »Aber ich weiß, daß sie recht hat.«

»Weil sie es dir eingeredet hat. Sie hat irgend etwas mit dir angestellt.«

»So ein Blödsinn. Das hätte ich wohl bemerken müssen.«