»Dann nenn’ mir einen guten Grund, mit dem sie dich überzeugt hat.«
»Ich...« Und plötzlich gingen ihr die Worte aus. Es war, als weigere sich etwas in ihrem Kopf, derartige Gedanken zuzulassen, eine Art Sperre, die jeden Argwohn, jede ernsthafte Überlegung in dieser Richtung blockierte.
»Siehst du«, meinte Jodokus überzeugt.
»Aber es ist wahr«, sagte sie. »Ich weiß es ganz genau.«
Sie saßen inmitten einer Bodensenke, über der sich wie ein Dach die Arme einer mächtigen Wurzel spannten. Der Wald um sie herum war hinter einer Mauer aus Schwärze verborgen. Nicht einmal das kleine Feuer, das sie entzündet hatten, vermochte der Nacht die Umrisse der nahen Bäume zu entreißen. Geisterhaftes Rascheln und Wispern erfüllte die Wälder, und einige Male waren sie durch glühende Augenpaare in der Dunkelheit aufgeschreckt worden. Kriemhild hatte längst die Orientierung verloren, doch der Sänger schien sich in dieser Gegend auszukennen. Am übernächsten Morgen, so hatte er gesagt, würden sie Salomes Zopf erreichen - falls Kriemhild immer noch dorthin gehen wolle.
Der befürchtete »Gegenzug«, wie Jodokus es genannt hatte, war bislang ausgeblieben, und Kriemhild war mittlerweile überzeugt, daß der Vorfall im Hohlweg nur ein Streich wilder Winde gewesen war. Sie hatte es aufgegeben, mit Jodokus darüber zu streiten; er würde niemals von seiner Überzeugung lassen.
»Sie hat dich mit ihrer Hexerei umgarnt«, behauptete Jodokus beharrlich, »genau wie deine Mutter.«
Kriemhild hatte ihm verschwiegen, wer ihre Mutter war, aber allmählich schien er etwas zu ahnen. Zwangsläufig mußte er sich fragen, weshalb die legendäre Berenike ihren Hexenhort verlassen hatte, um einem jungen Mädchen die Träume zu deuten. Für ein einfaches Edelfräulein, eine angehende Hofdame, hätte sie kaum den beschwerlichen Weg nach Worms auf sich genommen.
Kriemhild versuchte erneut, ihre Gefühle zu erforschen, doch jedesmal, wenn sie die Worte der Hexe durchschauen wollte, traf sie auf eine Barriere. Alles, was mit Berenike zu tun hatte, war über jeden Zweifel erhaben. Genausogut hätte Jodokus beanstanden können, daß sie die Nacht für dunkel, das Laub für grün und das Wasser eines Baches für flüssig hielt.
Natürlich bin ich im Recht, dachte sie, und die Gewißheit dieses Gedankens erfüllte sie mit wonniger Genugtuung.
Kapitel 4
Der kleine Junge kauerte im Dämmer des anbrechenden Tages hinter einem Baumstumpf und wünschte sich, er wäre daheim in Würzburg geblieben. Er und seine Eltern hätten die Stadt nie verlassen dürfen. Die Familien des Flüchtlingszuges, der auf einer nahen Lichtung lagerte, hatten geglaubt, sie könnten vor der Seuche davonlaufen. Hier draußen in den Wäldern wären sie sicher, hatten sie gehofft. Es war ein Trugschluß, und Jorin Sorgebrecht hatte es als erster erkannt. Aber er war nur ein Junge, ein Kind, und niemand würde ihm glauben schenken.
Doch es war nicht die Überheblichkeit der Erwachsenen, die ihm in diesem Augenblick Sorge bereitete - es war der Schatten des Reiters, der sich von Norden her näherte. Sein Schatten, der jeden Augenblick über den Baumstumpf und über Jorin fallen würde. Sein Schatten, der den sicheren Tod verhieß.
Jorin hätte aufspringen können, aber er wußte, daß der Reiter keine Gnade kannte. Sein schwarzer Mantel fiel weit über mächtige Schultern, über Sattel und Hinterteil des Rosses. Ein langes Schwert hing an seiner Seite, und doch war es nicht die Klinge, die Vernichtung säte. Der Reiter selbst war es, eine finstere Legende, in Fleisch und Stahl gegossen. Gestaltgewordener Aberglaube. Der Herrscher ohne Hofstaat, der Regent aus dem Herzen der Nacht. König Pest.
Jorin preßte sein Gesicht enger an den Stumpf. Der würzige Duft von Rinde und Moos drang in seine Nase. Er kniff die Augen zusammen, wie er es als kleines Kind getan hatte, wenn er gehofft hatte, andere würden ihn nicht finden. Doch dies hier war kein Versteckspiel.
Der Schatten des Reiters kam näher, glitt wabernd über Sträucher und wildes Gras, über Dickicht und zerbrochene Zweige. Jorin wagte kaum mehr zu atmen. Wenn er sich jetzt zu erkennen gab, war es um ihn geschehen. Aber sterben würde er so oder so. Wer wußte schon, ob nicht einige der Flüchtlinge längst die Male der Plage unter der Kleidung trugen, ob sie die Seuche nicht mit sich schleppten wie den Geruch der Totenfeuer, der sie noch lange über die Stadt hinaus verfolgt hatte. Der Schwarze Tod war längst überall, nur verbarg er sich hier draußen hinter Bäumen und Bergen. Alle, selbst die Kinder, fühlten, daß er sie umschlich wie ein Wolfsrudel, hungrig, pirschend, auf lautlosen Pfoten.
Jorin war der erste, der ihn mit eigenen Augen sah, ihn erblickte wie einen anderen Menschen, greifbar, hörbar und doch aus einer fremden Welt. König Pest, von dem erst die Alten und plötzlich jedermann gesprochen hatte. König Pest, der Plagenbringer.
Die Hufe seines dunklen Rosses schlugen hart auf den Boden der Schneise, so daß im Umkreis die Erde erbebte. Jorin hörte das Schnauben der Nüstern, das Rascheln des schlagenden Schweifs. Hinter dem ersten trabte ein zweites Pferd, gesattelt, aber nicht beritten, geführt an einem Strick. Im Gegensatz zum Roß des Königs war es weiß und voller Anmut. Jorin dachte: Das muß die Unschuld sein, vom Bösen in feste Ketten gelegt. Der Gedanke brachte ihn trotz seiner Ängste zum Weinen.
Eine Idee nahm in ihm Gestalt an. Mit jedem Herzschlag verstärkte sich seine Entschlossenheit. Er war fast noch ein Kind, zwölf Sommer jung, aber jetzt würde er versuchen, der Welt die Erlösung zu bringen.
Der Schatten huschte mit jedem Schritt des Pferdes näher heran. Jorin wußte genau, daß er es fühlen würde, wenn ihn der Schatten erreichte. Er fragte sich, ob es weh tun würde.
Das Hämmern der Hufe war jetzt auf einer Höhe mit dem Baumstumpf. Das vordere Pferd mit seinem schrecklichen Reiter trabte vorüber, das zweite folgte. Weder Schmerz noch Kälte stellten sich ein. Dennoch mußte der Schatten ihn gestreift haben. Möglich, daß die Krämpfe in Jorins angespannten Gliedern die Pein verschleiert hatten.
Zögernd schlug er die Augen auf. Das hintere Pferd war bereits eine gute Mannslänge entfernt. Der Reiter schien ihn nicht bemerkt zu haben, denn er saß immer noch starr im Sattel, von hinten nur mehr ein finsterer Umriß, ein Helm über schwarzem Gewand.
Jorins Plan stand fest, und mit dem Mut eines Todgeweihten machte er sich auf, ihn in die Tat umzusetzen.
Bemüht, keinen Laut zu verursachen, schob er sich hinter dem Baumstumpf hervor. Geschickt stiegen seine Füße über zerbrochenes Geäst hinweg, senkten sich dann in weiches Gras. Das schmale Himmelsband über dem Einschnitt färbte sich allmählich blau, im Osten ging die Sonne auf; der halbe Tag würde vergehen, ehe ihre Strahlen den Grund der Schneise berührten.
Früher hatten Jorin und seine Freunde an so manchem Sommertag das Reich vor fremden Mächten gerettet. Mit Holzknüppeln und Steinschleudern hatten sie ihren Ängsten den Krieg erklärt, in Würzburgs Gassen Ratten gejagt und blinden Bettlern die Münzen gestohlen. Doch nichts von alldem hatte ihn auf dies hier vorbereitet, auf die Befreiung der Unschuld aus den Fesseln des Bösen.
Blitzschnell sauste er hinter dem Schimmel her, bewegte sich ganz nah an seinem Schweif. Er hoffte, der Pferderücken würde ihn schützen, falls König Pest nach hinten blickte. Eine Weile lang folgte er dem Reiter und seinen Rössern, bis er sicher sein konnte, daß er nicht bemerkt worden war. Dann machte er sich an den zweiten Teil seines Plans.
Lautlos beschleunigte er seine Schritte und drängte sich an dem Schimmel vorüber, glitt langsam an seiner Flanke entlang und näherte sich Mähne und Kopf. Im stillen betete er, daß das Pferd seine Anwesenheit nicht durch Wiehern oder Scheuen offenbaren würde. Einen Augenblick später fand er die Befürchtung schon lächerlich. Das Gute, Reine, Vollkommene, das König Pest in Gestalt eines Rosses gefangenhielt, würde dankbar über seine Befreiung sein. Fraglos würde es nichts unternehmen, das Jorins Pläne vereiteln konnte.