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Jetzt mußte er nur noch die Hand ausstrecken, dann konnte er den Strick berühren, der vom Zaumzeug des Schimmels zum Sattel des Reiters führte. König Pest hatte das Seil um einen Riemen geschlungen, locker genug, um es in Windeseile lösen zu können.

Jorin hatte keinen Gedanken daran verschwendet, wie es ihm gelingen sollte, den Strick zu kappen. Hatte er ja nicht einmal ernsthaft erwartet, überhaupt so weit vorzudringen! Doch nun, da die Fessel in greifbarer Nähe lag, drohte er zu versagen. Verzweiflung überkam ihn. Er hatte es doch nicht bis hierher geschafft, um jetzt tatenlos aufzugeben!

Wenn es ihm allerdings gelänge, den Knoten am Zaumzeug des Pferdes zu lösen...

Wie aber sollte er das zustandebringen, ohne daß der Reiter es bemerkte? Der Schimmel würde zwangsläufig langsamer traben, vielleicht sogar stehenbleiben. Spätestens dann war Jorins Schicksal besiegelt.

Aber war es das nicht ohnehin? Der Schatten des Schwarzen Königs hatte ihn berührt, und mit ihm der Atem der Plage. Jorin was des Todes, auf die eine oder andere Weise.

Er lief noch ein wenig schneller, bis er genau neben dem Kopf des Schimmels ging. Dunkle runde Augen musterten ihn neugierig. Jorin sah darin sein Spiegelbild, winzig klein. Ob auch das ein Zeichen war? Er bewegte die Lippen, um das Tier zu beruhigen, sprach aber keines der Worte laut aus. Seine Blicke rasten abwechselnd zwischen dem Knoten und dem Helm des Reiters hin und her. Ganz langsam hob er die Hände, seine Finger berührten das Seil.

Der Knoten war sehr fest gezogen, mit Kräften, die jene von Jorin bei weitem überstiegen. Gut möglich, daß der Reiter einen Bann darüber gelegt hatte. Ein magischer Knoten, ja, so mußte es sein!

Aber Jorin hatte schlanke Finger, und er wußte sie flink zu gebrauchen. Bald schon, fünf, sechs Atemzüge später, hatte er die erste Schlaufe ein wenig gelockert, nicht weit genug, um nachzugeben, aber doch schon mit Aussicht auf Erfolg.

Ein kühler Windstoß raste ihnen durch die Schneise entgegen und verfing sich im Umhang des Reiters. Der aufgebauschte Stoff machte harte, flatternde Geräusche, rasselte wie ein Drache im Unterholz. Einen Moment lang schien es Jorin, als würde das schwarze Pferd zögern. Dann aber schüttelte es nur seine Mähne und bewegte sich unverwandt vorwärts. Der weite Umhang sank in sich zusammen, und König Pest blickte starr geradeaus.

Die Schlaufe war jetzt so groß, daß Jorin seinen Zeigefinger hindurchschieben konnte. Trotzdem wollte sich der Knoten nicht lösen. Das Seil war rauh und zerzaust, seine Fasern bissen grob ineinander. Die Magie, die es hielt, mußte schlicht aber machtvoll sein. Jorin schauderte bei dem Gedanken, vielleicht selbst so zu enden wie der Schimmel, gefangen im Schlepptau des Reiters, auf immerdar sein Sklave. Jeder wußte, daß König Pest an jedem Ort der Welt auftauchen konnte, und oft benutzte er dunkle, böse Pfade. Die Vorstellung, ihm auf jeden Schritt folgen zu müssen, war fast zu viel für Jorin. Er war nahe daran, sich ins Dickicht zu schlagen, als ihn plötzlich die Nase des Schimmels anstieß, vertraut, beinahe spielerisch. Ein Blick in diese braven braunen Augen, die so viel Hoffnung in ihn setzten, und Jorin verwarf jeden Gedanken an Flucht. Er mußte das Tier befreien und mit ihm, vielleicht, das ganze Land.

Ein harsches Flattern ließ ihn abermals innehalten. Unter seinem ungläubigen Blick senkte sich ein gewaltiger Rabe vom Himmel herab, verkrallte sich in der rechten Schulter des Reiters. Ein schrilles Krächzen drang aus dem Schnabel des Tiers, und aus den Wäldern ertönte eine Antwort. Nur wenige Herzschläge später schwebte ein zweiter Rabe heran, landete kreischend auf der linken Schulter. Reiter und Roß ritten unberührt weiter.

Zum ersten Mal kamen Jorin Zweifel. War der Schwarzgerüstete wirklich der, für den er ihn hielt? Oder, schlimmer noch, war er gar jener, den die Alten den Rabengott nannten, den Herrn aller Götter - Wodan, der in Gestalt eines Menschen mit seinen Raben durch die Lande streifte?

Plötzlich kam Jorin sich unsagbar dumm vor. Jorin Sorgebrecht, Sohn eines Schneiders und einer Wäscherin, versuchte den obersten der alten Götter zu bestehlen!

Zugleich aber war da das dankbare Leuchten in den Augen des Schimmels, und abermals haderte der Junge mit seinem Gewissen.

Einer der beiden Raben wandte sich um und starrte ihn an. Legte den Kopf schräg, blinzelte... und begann zu schreien!

Jorin stolperte vor Entsetzen über die eigenen Füße, sein Finger rutschte aus dem gelockerten Knoten, er wich den Hufen des Schimmels aus, stürzte zur Seite und landete mit einem Aufschrei inmitten eines Dornendickichts.

Der Reiter zügelte sein Pferd. Nicht übereilt, nicht überrascht.

Jorin rang mit Ranken und Dornen, und doch blieb ihm genug Zeit zu begreifen, daß der Recke nur mit ihm gespielt hatte. Ob König Pest oder Rabengott, es machte keinen Unterschied. Beide würde ihn mit einem Fingerschnippen in Asche oder Schlimmeres verwandeln. Und wenn es nicht bald geschah, dann würde es gewiß die Angst sein, die ihn umbrachte.

Hinter den Sehschlitzen des Helms war nichts als Schatten. Die beiden Raben auf den Schultern des Reiters wiegten sich langsam hin und her, im Banne einer stummen Melodie. Sie selbst waren verstummt, nur ihr Gefieder raschelte im Wind. Auch der Kragen des Reiters war aus schwarzen Federn gewirkt, ein hoher, buschiger Schulterschmuck.

Der Anblick des Mannes hätte Jorin wohl auf der Stelle erstarren lassen, wären da nicht die Dornen gewesen, die sich von allen Seiten in seinen Körper bohrten. Er hatte seine Sinne noch so weit beieinander, daß er keinen Schrei ausstieß, um das Wesen im Sattel nicht noch mehr gegen sich aufzubringen. Statt dessen versuchte er verzweifelt, sich mit Händen und Füßen aus den Büschen zu stemmen. Dabei aber griff er jedesmal in neue Dornen, und die Spitzen rissen ihm Finger und Handflächen auf. Er weinte leise, aber es war nicht nur die Angst, die ihn dazu trieb, sondern auch der Zorn über seine eigene Hilflosigkeit.

Der Reiter betrachtete Jorins erfolglose Versuche eine Weile lang, schaute sich dann nach allen Seiten um und stieg mit einer erhabenen Bewegung aus dem Sattel. Sein Rüstzeug klirrte leise, und der Saum des Mantels streifte rauschend über den Boden, ohne sich in Dornen oder Zweigen zu verfangen; es sah beinahe aus, als wiche der Stoff ganz von selbst jeder Spitze aus. Riesenhaft und dunkel baute sich der Mann vor Jorin auf, aber sein Schatten fiel diesmal in die andere Richtung, und der Junge war dankbar dafür. Die beiden Raben erstarrten, nur um sich einen Moment später wie auf einen geheimen Befehl hin von den Schultern zu erheben und hinauf in die Lüfte zu steigen. Dort verschwanden sie zwischen den Baumwipfeln.

Eine behandschuhte Hand streckte sich Jorin entgegen. Der Junge zuckte zurück und trieb dabei ein halbes Dutzend Dornen in seinen Rücken. Noch immer sagte der Mann kein Wort, nur sein Atem ertönte dumpf aus dem Inneren des Helmes.

Er atmet, durchfuhr es Jorin, also ist er ein lebender Mensch! Doch was, schalt er sich dann, wußte ein Kind wie er schon über die Masken der Götter? Möglich, daß sie die Menschen bis in jede Einzelheit nachahmten.

Die ausgestreckte Hand schwebte über ihm, er mußte sie nur ergreifen. Ihr schwarzer Umriß vor dem blauen Morgenhimmel war ihm Drohung und Hoffnung zugleich. Doch die Dornen nahmen ihm die Entscheidung ab. Jorin ertrug den Schmerz nicht länger, und ehe er sich versah, hatte er die Hand gepackt und ließ sich von dem Riesen aus den Büschen ziehen.

Ganz kurz durchzuckte ihn der Gedanke, dem Mann entkommen zu können. Sich einfach herumzuwerfen und davonzulaufen. Dann aber dachte er sich, daß er längst hätte tot sein können, wenn der Reiter es gewollt hätte.

»Weißt du, welche Strafe der König Pferdedieben auferlegt?« drang eine scharfe Stimme unter dem Helm hervor.