Jorin fuhr zusammen. Angstvoll nahm er an, daß mit »König« der Reiter selbst, König Pest, gemeint war. Er schüttelte den Kopf, unfähig, auch nur einen Ton herauszubringen.
»Er läßt sie hängen«, sagte der Mann. »Und wenn der Dieb mehr als einmal gestohlen hat, wird er von vier starken Gäulen zerrissen.« Der Mann beugte sich mit einem Ruck vor, bis das Stahlgesicht des Helmes nur noch wenige Fingerbreit vor Jorins Nase schwebte. »Hast du mehr als einmal gestohlen?«
Jorin dachte, daß er auf der Stelle tot umfallen müsse. Jetzt und hier.
Hinter den Sehschlitzen brodelte die Dunkelheit. »Sag mir die Wahrheit, Junge!«
»Nein!« preßte Jorin hervor. Es stimmte, er hatte noch nie etwas gestohlen, das größer war als ein Apfel. Und ganz bestimmt keine Pferde.
Der Fremde blickte ihn aus unsichtbaren Augen an, als forschten sie in Jorins Kopf nach Beweisen seiner Aufrichtigkeit.
Endlich richtete der Mann sich wieder auf. »Gut«, sagte er. »Wie ist dein Name?«
»Jorin, Herr. Jorin Sorgebrecht.«
»Bist du krank?«
Jorin dachte daran, daß der Schatten des Reiters ihn berührt hatte. »Nein, Herr«, sagte er und hoffte, daß es die Wahrheit war.
»Zieh dein Wams aus!«
Der Junge befolgte den Befehl, und der Mann unterzog seine Achselhöhlen und seinen Hals einer eingehenden Betrachtung. Dann nickte er langsam. »Mir scheint, es ist wahr, was du sagst. Gut für dich.«
Die knappe Bemerkung jagte Jorin einen eisigen Schauer über den Rücken. Er ahnte, was geschehen wäre, wenn er gelogen hätte.
»Wo kommst du her?« fragte der Mann. »Gibt es ein Dorf hier in der Nähe?«
»Ich glaube nicht, Herr«, sagte Jorin und zog geschwind sein Hemd über. »Wir sind Flüchtlinge. Wir kommen aus der Stadt.«
»Wen meinst du mit ›wir‹? Deine Eltern und dich?«
»Ja, Herr, und noch einige andere.«
»Wie viele seid ihr?«
Jorin hatte nie gelernt, weiter als bis zehn zu zählen. Jetzt überlegte er angestrengt. »Ungefähr dreimal zehn«, sagte er dann, »ein paar mehr, vielleicht.«
»Und wo ist euer Lager?«
Geschwind hob Jorin den Arm und zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war. Nur einen Augenblick später fiel ihm ein, daß er damit vielleicht das Todesurteil über die ganze Gruppe gesprochen hatte. Bleich und erschrocken ließ er die Hand wieder sinken.
Der Mann schien seine Gedanken zu lesen. »Keine Angst, Jorin Sorgebrecht. Weder dir noch den deinen will ich Böses.«
Jorin war keineswegs überzeugt, daß er daran glauben konnte, doch zum Schein nickte er hastig.
»Ich verlange nur eine Auskunft, nicht mehr«, fuhr der Mann fort. »Vielleicht kannst du mir helfen.«
»Ich bin Euer Diener, Herr.«
Der Fremde neigte den Helm, als stimmten ihn Jorins Worte milde. »Ich bin auf der Suche nach einem Mädchen mit langem goldenen Haar. Jemand ist bei ihr, aber ich weiß nicht, wie er aussieht. Sie reiten auf schwerfälligen Pferden, Ackergäulen wahrscheinlich. Hast du die beiden gesehen?«
Jorin spielte kurz mit dem Gedanken, ja zu sagen, um den Fremden gnädig zu stimmen; dann aber schüttelte er wahrheitsgetreu den Kopf. »Nein, Herr. Einige von den Mädchen, die mit uns ziehen, haben goldenes Haar, aber sie sind bei uns, seit wir die Stadt verlassen haben.«
Der Ritter schien einen Augenblick nachzudenken. »Führe mich zu deinen Leuten, Junge.«
»Das will ich, Herr.«
»Kannst du reiten?«
»Nicht wirklich, Herr.«
»Was wolltest du dann mit dem Pferd?«
»Ich... nichts, Herr.«
Wieder ruckten Helm und Oberkörper des Fremden vor. »Nichts?« fragte er drohend.
Jorin kam die Tatsache, daß er in dem Schimmel die verlorene Unschuld der Welt vermutet hatte, mittlerweile überaus albern vor. Er würde lieber sterben, als nur ein Wort darüber zu verlieren. »Verkaufen«, beeilte er sich zu sagen. »Ich wollte das Tier verkaufen, Herr.«
»Schon besser.« Der Ritter straffte sich und trat neben den Sattel des Schimmels. »Du wirst es nicht verkaufen können, Jorin Sorgebrecht, aber du darfst eine Weile darauf sitzen.«
»Aber ich kann doch -« Nicht reiten, wollte Jorin sagen, besann sich dann aber eines Besseren. »Ich will es gerne versuchen«, meinte er kleinlaut.
Der Ritter packte ihn mit beiden Händen und hob ihn blitzschnell in den Sattel. »Halte dich gut fest und gib acht auf tiefe Äste. Ich habe wenig Zeit und werde dich nicht aufsammeln, wenn du herunterfällst.«
»Ja, Herr.« Das weiße Pferd unter ihm stand ganz ruhig, und da begriff Jorin, daß es ein überaus edles und kostbares Tier sein mußte.
Der Ritter schwang sich in den Sattel des schwarzen Rosses, dann lenkte er es durchs Unterholz in die Richtung, in die Jorin gedeutet hatte. Der Schimmel folgte ihm, ohne Jorins Aufforderung abzuwarten. Der Junge hatte auch so genug zu tun: Den tiefhängenden Zweigen auszuweichen war viel schwieriger, als er erwartet hatte, doch das weiße Pferd trug ihn so ruhig und sicher durch den Wald, daß Jorin auf nichts anderes achten mußte, als sich festzuhalten und den Kopf einzuziehen.
»Herr«, rief er einmal dem Ritter zu, »sagt mir, wie darf ich Euch nennen?«
Der Fremde ließ eine Weile verstreichen, bis Jorin schon glaubte, er würde keine Antwort mehr bekommen. Dann aber ertönte es plötzlich unter dem Helm: »Ich bin Hagen von Tronje. Aber das ist kein Name, den du im Kopf behalten solltest. Manchem hat er schon Unglück gebracht.« Leiser fügte er hinzu: »Vor allem jenem, der ihn trägt.«
Jorin wußte nicht recht, was er von der letzten Bemerkung des Ritters halten sollte, entschied aber, sich keine weiteren Gedanken darüber zu machen. Er war viel zu erleichtert, daß er es mit einem Menschen aus Fleisch und Blut zu tun hatte, nicht mit einem Dämon oder Gott.
Bald darauf erreichten sie die Lichtung. Durch das Gewirr der Stämme und Zweige waren die Karren der Flüchtlinge deutlich zu erkennen.
Jorin spürte bei dem Anblick keine Erleichterung. Er hatte sich mit gutem Grund davongeschlichen. Jetzt, da er zurückkehrte, schien sich eine unsichtbare Faust um sein Herz zu schließen.
Auch der Ritter erkannte sofort, daß etwas nicht stimmte. Er zügelte sein Pferd, bevor es aus dem Dämmer des Waldes ins Tageslicht treten konnte. Obwohl er den Helm nicht abgenommen hatte, spürte Jorin, daß Hagen voller Argwohn und Anspannung auf das Treiben der Flüchtlinge blickte.
Der Schimmel blieb neben dem schwarzen Schlachtroß stehen. Jorin beugte sich über die Mähne, als könnte er sich so vor den Menschen auf der Lichtung verstecken. Noch aber hatte niemand sie entdeckt.
Die Flüchtlinge hatten eine stattliche Herde von Rindern mit sich geführt, doch jetzt war keines der Tiere mehr am Leben. Man hatte sie aufgeschlitzt und ausgeweidet. Am entferntesten Rand der Lichtung lag ein Haufen aus Eingeweiden, der einem erwachsenen Mann bis zur Schulter reichte und am Boden breit auseinanderlief. Sonnenstrahlen glänzten auf den feuchten Schlingen und Blasen, und der Gestank war erbärmlich.
Die ausgeleerten Rinderleiber waren im Halbrund um die Lichtung an den Bäumen aufgehängt worden, mit den Schädeln nach unten. Ihre Bäuche waren feigenförmig aufgeklafft. Dahinter lagen nasse, dunkelrote Höhlen.
In einigen davon kauerten Menschen.
Ein alter Mann mit lichtem Haar und langem Bart ging von Kadaver zu Kadaver und segnete jeden mit einem Stab, an dessen Ende ein Kreuz angebracht war. Der Alte trug eine braune Kutte und sang auf lateinisch ein Kirchenlied; sein Gesicht war eingefallen, beinahe asketisch. Hinter ihm bewegte sich das verschüchterte Knäuel der Flüchtlinge. Alle waren splitternackt, ganz gleich ob Mann oder Weib oder Kind. Einige der Jüngsten weinten, andere hielten sich trostsuchend an den Händen.
Immer, wenn ein Kadaver von dem Alten mit den nötigen Weihen bedacht war, löste sich einer der Flüchtlinge aus der Gruppe und kroch widerstrebend in das ausgehöhlte Tier. Auf diese Weise war die Gruppe bereits auf die Hälfte zusammengeschrumpft; die übrigen hockten in den tropfenden Leibern, schwangen langsam mit ihnen vor und zurück.