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»Wer ist dieser Mann?« flüsterte Hagen dumpf.

»Noah, ein Priester aus dem Norden«, antwortete Jorin. »Er hat sich uns angeschlossen, als wir die Stadt verließen.«

»Das da war sein Einfall, nehme ich an.«

»Ja. Deshalb bin ich fortgelaufen. Nicht wegen der Rinder«, fügte der Junge schnell hinzu, »ich habe keine Scheu vor Blut, aber...« Er verstummte, doch Hagen nahm den Satz auf:

»Aber du hattest Angst vor dem, was das Ritual bedeuten könnte, nicht wahr?«

»Ja, Herr«, gab Jorin zu und wunderte sich über das Verständnis des großen, finsteren Mannes.

»Als ich ein Kind war...«, begann Hagen, brach aber schlagartig ab, ohne den Satz zu Ende zu bringen.

Jorin wartete eine Weile, doch was immer der Ritter hatte sagen wollen, er behielt es lieber für sich. Schließlich zuckte der Junge nur mit den Schultern und blickte wieder hinaus auf die Lichtung. Er suchte nach seinen Eltern, fand sie aber nicht unter jenen, die hinter dem Priester standen. Sie mußten sich schon in den Kadavern verkrochen haben.

Plötzlich drehte Hagen sich zu Jorin um. Er hatte eine Entscheidung getroffen. »Geh zu deinen Leuten, Junge. Was immer sie dort tun mögen, bei ihnen bist du sicherer, als allein im Wald.«

»Und Ihr, Herr?«

»Ich reite weiter. Ich will mich nicht in diese Dinge mischen.«

»Aber ich habe Angst.«

»Und du tust gut daran, Jorin Sorgebrecht. In Zeiten wie diesen ist es weise, sich zu fürchten.«

Jorin blickte traurig zu Boden. »Sie werden mich bestrafen, weil ich fortgelaufen bin.«

»Liebst du denn deine Eltern nicht?«

»O doch, gewiß. Aber sie tun, was Noah ihnen sagt. Alle tun das. Und Noah wird mich bestrafen lassen.«

Hagen blickte wieder hinaus auf die Lichtung. »Er versucht, die Pest auszutreiben, nicht wahr?«

Jorin streichelte geistesabwesend über die Mähne des Schimmels. »Er sagt, die Krankheit ist in uns allen, zu jeder Zeit. Nur manchmal, wenn die Sünde der Welt besonders groß ist, dann kommt sie zum Vorschein, und verrät, wie es in unserem Inneren aussieht.«

»Aber dieses Ritual dort ist keine christliche Zeremonie.«

»Noah sagt, es reinigt die Menschen. Er betet oft und singt fromme Lieder.«

»Hat niemand etwas einzuwenden gehabt, als der Priester verlangte, die Tiere zu töten?«

»Jakup, dem die meisten Rinder gehörten, hat geschimpft und geschrien.« Jorin schüttelte sich bei der Erinnerung an das, was geschehen war. »Noah sagte, Jakup sei bereits krank, seine Worte würden das beweisen. Da wurde er ausgestoßen und mußte das Lager verlassen. In der letzten Nacht ist er zurückgekommen, um seine Rinder zu retten, aber es war schon zu spät. Die meisten waren längst geschlachtet. Jakup hat sich auf Noah gestürzt, ich glaube, er wollte ihn umbringen. Aber die anderen Männer haben ihn fortgerissen, und Noah hat befohlen, ihn...« Er verstummte.

»Was für ein sonderbarer Priester ist das, der aufrechte Männer töten läßt?«

»Er sagt, er sei der Erlöser.« Jorins Blick wurde trotzig. »Aber ich glaube ihm kein Wort.«

Hagen versank in Schweigen. Jorin spürte, daß er zwischen zwei Entscheidungen hin- und hergerissen wurde.

Schließlich sagte der Ritter: »Dennoch, ich muß weiter.« Er legte Jorin eine schwere Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid. Du bist ein gescheiter Junge, Jorin, und du wirst einmal ein kluger Mann werden. Geh zu deinen Eltern zurück und -«

Von der Lichtung erklang ein lauter Ruf. Hagen brach mitten im Satz ab und fluchte lautstark. Als Jorin seinem Blick folgte, bemerkte er, daß ihr Versteck keines mehr war. Zwei Mädchen, ein wenig älter als Jorin selbst und unbekleidet wie der Rest der Flüchtlinge, zeigten mit ausgestreckten Armen auf die beiden Reiter im Unterholz. Sogleich brach ein Tumult aus.

Der Gesang des Priesters verklang. Noah wirbelte herum und deutete mit seinem Stab auf Hagen und Jorin. Die Menge schien sich hinter seinem Rücken verkriechen zu wollen, so eng drängten sich die Menschen aneinander. Jene, die in den Kadavern kauerten, streckten neugierig die Köpfe hervor.

»Nun gut«, zischte Hagen leise, dann hieb er seinem Roß die Stiefel in die Flanken und preschte aus dem Dickicht auf die Lichtung. Zweige brachen, und abgerissenes Laub wirbelte rund um ihn zu Boden.

Die Aufregung unter den Flüchtlingen drohte beim Anblick des finsteren Reiters in Panik umzuschlagen, doch Noah befahl lautstark, die Ruhe zu bewahren. Tatsächlich schien es, als habe er die Leute gut im Griff. Doch dann rief plötzlich eine Stimme: »Seht doch! Es ist König Pest! Es ist der Schwarze König!«

Die Menschenmenge schien zu explodieren.

Männer und Frauen stürmten in alle Richtungen davon, einige suchten hinter den Karren Schutz, andere flüchteten zwischen die Bäume. Jene in den Kadavern zogen die Köpfe zurück und verbargen sich in ihren stinkenden Löchern, andere stürmten gar auf die leerstehenden Rinderleiber zu und krochen geschwind hinein. Von überall her erklang Weinen und Geschrei, Gebete und sakraler Singsang.

Noah aber verharrte inmitten des Chaos, reckte den Stab mit dem Kreuz zum Himmel und blickte Hagen starr entgegen. Als hätte er sie herbeigerufen, fuhren plötzlich Windböen in die weite Kutte des Priesters, brachten sie zum Flattern und zerzausten seinen Bart. Seine Lippen bewegten sich lautlos, und Jorin ahnte, daß er eine seiner Beschwörungen murmelte.

Hagen aber ließ sich von all dem nicht beeindrucken. Er ritt auf den Priester zu, zügelte sein Pferd an der Seite des Alten und trat ihm kraftvoll mit dem Stiefel vor die Brust. Noah kreischte auf, ließ den Stab fallen und flog rückwärts ins Gras.

Gebete und Gesänge wurden noch lauter, und einige Männer, die tapfersten, lösten sich aus ihren Verstecken und wollten dem Priester zur Hilfe eilen.

Hagen aber glitt in Windeseile aus dem Sattel, setzte dem am Boden liegenden Alten einen Stiefel auf den Brustkorb, zog sein Schwert und legte die Spitze an Noahs faltigen Hals. Die herbeistürmenden Männer wurden langsamer, blieben dann stehen. Haß, aber auch abgrundtiefe Furcht standen in ihren Augen.

Zugleich setzte sich Jorins Schimmel ohne Aufforderung in Bewegung und trabte gemächlich durch die Schneise, die Hagens stürmischer Auftritt ins Unterholz gerissen hatte. Als Jorin auf dem Pferd ins Freie schaukelte, blickten ihm drei Dutzend Augenpaare entgegen.

»Er hat die Krankheit!« schrie jemand. »Er reitet an der Seite von König Pest!« Geschrei und Gekeife wurden ohrenbetäubend.

Jorin wurde sehr klein in seinem Sattel und wünschte sich ans andere Ende der Welt.

Hagen hob seine freie Hand. Innerhalb weniger Augenblicke wurden die Schreie zu gedämpftem Flüstern, verstummten dann ganz. Gespanntes Schweigen legte sich über die Lichtung.

»Sagt mir«, rief Hagen in die Runde, »was hat euch dieser Mann versprochen?«

Keiner der Flüchtlinge wagte zu antworten, doch Noah brüllte: »Gesundheit. Frieden. Das ewige Leben. Und deinen Untergang, König Pest!«

Jorin hatte Zweifel, daß Noah den Ritter wirklich für den hielt, als den er ihn darstellte. Jorin selbst war diesem Irrtum erlegen, aber er war noch ein Kind; Noah hingegen wußte sehr wohl, was er sagte und tat, und er schien bei aller Verschlagenheit äußerst klug und gewitzt.

»Er lügt!« rief Jorin, und alle Gesichter wandten sich erneut zu ihm um. Sogar Hagen schaute ihn an. »Er ist ein aufrechter Ritter, und er ist gesund wie wir alle.«

Eines der Mädchen, ein junges Ding, mit dem Jorin früher in den Gassen gespielt hatte, lachte auf, ein irrer, verzweifelter Laut. »Gesund wie wir?« rief es höhnisch. Dabei rannte es auf Jorin zu, blieb einige Schritte vor ihm stehen und riß beide Arme in die Höhe. »Sieh her, Jorin Sorgebrecht!« Und sie offenbarte große schwarze Pusteln unter ihren Achseln.