Jorin zuckte voller Entsetzen zurück. Er hatte geglaubt, alle Mitglieder des Flüchtlingszuges seien bisher von der Krankheit verschont geblieben. Doch wenn das Mädchen die Male der Plage trug, dann vielleicht auch einige der anderen.
Das Mädchen sah das Grauen in seinen Augen, warf den Kopf zurück und stieß ein schrilles Lachen aus. Dann brach es schlagartig in sich zusammen, wie von einem Pfeil getroffen, begann zu weinen und rollte sich am Boden zusammen wie ein getretener Hundewelpe.
Einige der Flüchtlinge fanden neuen Mut und stürzten auf Hagen und Jorin zu.
Der Ritter beugte sich vor, packte den Priester am Kragen und riß ihn in die Höhe. Die Schwertspitze wies unvermindert auf den faltigen Hals des Alten.
»Sie sollen stehenbleiben!« sagte er mit fester Stimme, ohne jede Regung.
Noah schenkte ihm einen vernichtenden Blick. Dann rief er mit keifender Stimme: »Tötet ihn! Er ist die Plage selbst! Tötet alle beide!«
Die nackten Männer stürmten wie ein Rudel wilder Tiere über die Lichtung.
Jorins Augen weiteten sich, als er sah, wie gleich fünf oder sechs in seine Richtung liefen. Das Mädchen wälzte sich immer noch im Gras, achtete nicht auf das, was um es herum geschah. Panik überkam Jorin wie ein Fieberanfall; sein Gesicht, sein ganzer Körper schien zu glühen. Er zerrte an den Zügeln des Schimmels, ohne genau zu wissen, was es bewirken würde. Er hoffte nur, das Tier würde wenden und ihn in Sicherheit tragen.
Das kluge Roß aber schien bereits eine eigene Entscheidung getroffen zu haben. Plötzlich machte es einen Satz über das Mädchen hinweg und preschte mit schnaubenden Nüstern und donnerndem Hufgetrampel auf die Angreifer zu. Schreiend teilte sich die Gruppe, um nicht von dem Tier überrannt zu werden. Ehe Jorin sich versah, galoppierte der Schimmel schon quer über die Lichtung. Hakenschlagend wich das Pferd allen Angreifern aus, führte sie mühelos in die Irre, ließ sie übereinander stolpern und sorgte so für beträchtliche Aufregung. Hätte Jorin es nicht besser gewußt, so hätte er wohl meinen können, der Schimmel machte sich einen Spaß aus dieser Verfolgungsjagd. Und natürlich erkannte der Junge, daß sie hier, wo das Pferd genug Auslauf hatte, viel sicherer waren als im Wald, wo Baumstämme und Äste die Beweglichkeit des Tieres eingeschränkt hätten.
Derweil bedrohte Hagen immer noch den zappelnden Priester. Trotz aller Warnungen machte der Alte keinerlei Anstalten, seinen Mordbefehl zurückzunehmen.
»Wie du willst«, fauchte Hagen, ehe die ersten Angreifer ihn erreichen konnten. Er schleuderte Noah von sich und ließ das Schwert in weitem Bogen herumwirbeln. Die Männer blieben zurück, aus Angst, von der blitzenden Klinge niedergemäht zu werden. Einigen schien schlagartig bewußt zu werden, daß sie nicht nur unbekleidet, sondern auch unbewaffnet waren.
Noah lag am Boden und kreischte in höchsten Tönen: »Er muß sterben! Beide müssen sterben!«
Hagen sah ihn einen Augenblick aus den Schatten seiner Sehschlitze an, dann machte er einen Schritt auf ihn zu und führte einen kurzen, scharfen Hieb nach Noahs Kehle. Die aufpeitschenden Schreie des Alten brachen ab. Hagen sah ohne Mitleid zu, wie das Leben als letztes Röcheln aus dem blutenden Schnitt entwich, dann wandte er sich den übrigen Flüchtlingen zu.
»Ich will keinen Streit mit euch«, sagte er ruhig, doch der Helm gab seinen Worten einen düsteren, dumpfen Unterton.
Niemand ging darauf ein. Alle starrten ihn nur weiterhin unverwandt an, einige in irrer Wut, die meisten aber verängstigt.
»Was wollen wir nun tun?« fragte Hagen laut in die Runde. »Seid ihr sicher, daß ihr mich angreifen wollt?« Er deutete auf einen Mann, der größer und kräftiger als die anderen war und ihn haßerfüllt anstarrte. Seine nackte Haut war blutverschmiert. »Du! Willst du den ersten Schritt tun?«
Obwohl Jorin noch immer von dem Schimmel in weiten Kreisen über die Lichtung getragen wurde, erkannte er in dem Mann seinen Vater; er hatte den Kadaver verlassen, um Noah zu verteidigen, nicht seinen Sohn.
»Wer auch immer mich angreift«, rief Hagen und zeigte mit der Schwertspitze auf den nackten Hünen, »du wirst der erste sein, den ich töte. Darauf meinen Eid!«
Jorins Vater zuckte bei diesen Worten kaum merklich zusammen, und sein Blick fuhr herab zum Leichnam des Priesters. Dann sah er wieder Hagen an. Die Schwertklinge wies noch immer in seine Richtung. Es gab keinen Zweifel, daß der Ritter seine Drohung wahrmachen würde.
»Denk nach!« forderte Hagen ihn auf, ohne einen der übrigen Männer zu beachten. »Selbst wenn ihr alle zugleich über mich herfallt, wirst du es sein, der stirbt, noch vor allen anderen.«
Jorin versuchte, den Schimmel innehalten zu lassen, doch das Pferd gehorchte ihm nicht. Jorin wollte brüllen, um Gnade für seinen Vater bitten; er wußte allerdings, daß Hagen sie nicht gewähren würde.
»Vater!« schrie er deshalb über den donnernden Lärm der Hufe hinweg. »Du mußt tun, was er sagt! Er wird dich sonst töten!«
Falls Hagen überrascht war, so zeigte er es mit keiner Regung. Jorins Vater aber verlor noch mehr von seiner Sicherheit.
Schließlich hob er die Hand. »Zurück«, sagte er leise, dann noch einmal lauter: »Zurück!«
Etwa die Hälfte der Flüchtlinge gehorchte. Die übrigen aber waren viel zu aufgebracht über den Tod des Priesters. Einige von ihnen machten ungerührt einen Schritt auf Hagen zu.
Obwohl Jorins Vater sich mit den anderen zurückgezogen hatte, wies der Ritter abermals mit dem Schwert auf die Brust des Mannes. »Ich töte dich«, rief er beharrlich, »wenn auch nur einer die Hand gegen mich oder den Jungen erhebt.«
»Nein!« brüllte Jorin vom Rücken des galoppierenden Schimmels herab. »Das ist ungerecht!«
Hagen beachtete ihn nicht. »Ruf diese Hunde zurück«, gemahnte er Jorins Vater, »oder du stirbst!«
Durch die Reihe jener, die zurückgetreten waren, ging ein unruhiges Raunen. Jorins Vater sah sich aufgebracht unter ihnen um, aber alle senkten die Blicke. Plötzlich schien er ganz allein dazustehen, ohne jede Unterstützung. Mit einem verzweifelten Ruck setzte er sich in Bewegung und trat zwischen die Männer, die Hagen immer noch angriffslustig gegenüberstanden.
»Tut, was er sagt!« verlangte er und mühte sich merklich, das Schwanken seiner Stimme in den Griff zu bekommen. »Laßt ihn ziehen!«
»Er hat Noah getötet!« widersetzte sich einer und ließ seine Augen nicht von Hagen.
»Dafür erwartet ihn die Hölle«, gab Jorins Vater zurück. Er schenkte Hagen einen Blick voller Abscheu, dann wandte er sich wieder an die Männer. »Tretet zurück, oder wollt ihr wirklich noch weiteres Blutvergießen?«
Allmählich drangen seine Worte durch die Masken aus Haß und wütender Entschlossenheit, hinter denen sich die anderen verschanzten. Die ersten gaben auf und zogen sich zurück, weitere folgten ihnen. Schließlich spie auch der letzte verächtlich ins Gras und ging davon.
Der Ritter nickte Jorins Vater einmal kurz zu, so als wollte er sich bei ihm bedanken, dann senkte er das Schwert. Während er in den Sattel seines Rosses stieg, deutete er beiläufig auf den toten Priester. »Gebt ihm ein Begräbnis, das seinem Glauben entspricht - welcher auch immer das sein mag.«
Er hob die Hand, und sogleich hörte der Schimmel auf, im Kreis zu laufen. Gemächlich trabte er in die Mitte der Lichtung, bis er neben dem schwarzen Schlachtroß stehenblieb.
Jorin schaute den Ritter anklagend an, sagte aber kein Wort.
»Was nun, Junge?« fragte Hagen. »Willst du bleiben?«
Jorins Vater hatte Hagen und seinem Sohn den Rücken gekehrt, und obgleich er die Frage des Ritters gehört haben mußte, wandte er sich nicht um. Jorin blickte ihm flehend nach, doch die Entscheidung lag jetzt allein bei ihm. Niemand würde sie ihm abnehmen, gewiß nicht sein Vater. Er ahnte, daß der Haß der übrigen Männer und Frauen nur unterdrückt, aber keineswegs erloschen war. Sobald der Ritter fort war, würden die Flammen von neuem auflodern wie die Glut in einem Scheiterhaufen, und es gab wenig Zweifel, wen sie verzehren würden. Den Rückhalt seiner Eltern hatte er verloren - seine Mutter hatte sich noch immer nicht blicken lassen, und dann war da noch das Mädchen am Boden, die Pusteln unter ihren Achseln. Der sichere Tod, auch dann, wenn er blieb und nicht von der Menge zerrissen wurde.