Als der Junge seine Entscheidung traf, war Hagen schon zwei Pferdlängen entfernt und ritt unter den argwöhnischen Blicken der Flüchtlinge zum Waldrand.
»Wartet, Herr!« rief Jorin aus. »Nehmt mich mit Euch!«
Hagen gab durch nichts zu erkennen, ob er ihn gehört hatte, aber der Schimmel setzte sich sogleich in Bewegung und folgte dem Roß des Ritters. Jorin schaute sich nach seinem Vater um, Tränen verschleierten seinen Blick. Er sah nur einen nackten Umriß zwischen vielen anderen. Dann wurden die beiden Reiter vom Wald umfangen, und Geäst und Laubwerk verdeckten Jorins Sicht.
Sie waren bereits eine Weile geritten, schweigend und ohne sich anzusehen, als hinter ihnen Gesang laut wurde. Es war ein Lied in lateinischer Sprache, und obwohl Jorin kein einziges Wort verstand, spendete die Melodie ihm Trost. Einen ganz kurzen Moment lang wünschte er, jetzt bei den anderen zu sein, um sich vom Glauben und der Gemeinschaft und vielleicht auch von Gott an der Hand nehmen zu lassen. Auf dem Weg in den Tod, vielleicht, ganz gewiß aber auf dem Weg zur vollkommenen Gleichmut.
Kapitel 5
»Also?« fragte Kriemhild, und sie war weit mehr als nur ungehalten; tatsächlich war sie wütender denn je. »Wo bleibt denn dein verdammter Gegenzug, Jodokus-größter-Feind-der-Götter?« Und als er nicht gleich eine Erwiderung gab, setzte sie in ätzendem Tonfall hinzu: »Wo bleibt der göttliche Vernichtungsschlag, der dich und alles im Umkreis von drei Tagesreisen in den Boden stampft?«
Jodokus beachtete sie nicht. Er horchte auf etwas, Laute, irgendwo hinter ihnen in den Wäldern. Daß er offenbar nicht bereit war, etwas auf ihren Vorwurf zu erwidern, erzürnte Kriemhild um so mehr.
»Du könntest mir wenigstens antworten«, schimpfte sie aufgebracht.
Ihre Pferde hatten sie nicht wiedergefunden, beide Tiere blieben wie vom Erdboden verschlungen. Zumindest aber waren Kriemhild und der Sänger am Vormittag auf einen befestigten Weg gestoßen, der laut Jodokus nach Nordosten und somit zu Salomes Zopf führte. Aber Kriemhild war nicht sicher, ob sie ihm überhaupt noch ein Wort glauben konnte, und das galt auch für seine angeblich so gute Orientierung.
Insgeheim wunderte sie sich gehörig über sich selbst. Ihre Gefühle für den Sänger befanden sich in einem ständigen Auf und Ab. Manchmal sah sie ihn als guten Freund und treuen Gefährten, und da waren Momente, in denen sie nahe daran gewesen war, ihm ihr Herz auszuschütten. Darauf aber folgten unweigerlich jene Augenblicke, in denen sie glaubte, das ganze Lügengebäude, das er um sich errichtet hatte, diene nur einem einzigen Zweck, eben ihre Freundschaft, zumindest aber ihr Mitleid zu erlangen.
Plötzlich wurde Kriemhild wieder von solch einem Drang erfüllt, mit ihm zu streiten, daß ihr selbst angst und bange wurde. Ihr Verhalten entsprach nicht ihrer Natur, ganz im Gegenteil, doch das machte es nur noch schlimmer. Daß seine Anwesenheit sie in solche Verwirrung stürzte, ließ ihren Zorn noch heftiger auflodern.
Er tat gut daran, sich nicht auf ihre Anschuldigungen einzulassen, und genaugenommen wußten sie das beide. Aber so sehr Kriemhild sich auch vornahm, sich zu beherrschen, so sehr mißglückte ihr doch jeder dieser Versuche. Und wenn es ihr doch einmal gelang, sich zu zügeln, dann war wiederum er es, der zum Streiten aufgelegt war. Denn, und das war das sonderbarste, Jodokus schien unter ähnlichem Wankelmut seiner Stimmungen und Gefühle zu leiden wie sie selbst.
»Ich weiß nicht genau«, fuhr Kriemhild fort, »warum du tust, was du tust, aber -«
»Still!« flüsterte er.
»Bitte?«
»Sei ruhig. Irgendwer ist hinter uns.«
»Wenn du glaubst, daß -«
»Nein«, schnitt er ihr grob das Wort ab. »Ich glaube gar nichts, ich höre etwas.«
Sie winkte ab, wenn auch nicht ganz so selbstsicher, wie sie es sich wünschte. »Ach, komm, das hatten wir schon einmal.«
»Richtig. Und seitdem gehen wir zu Fuß, und es vergehen keine hundert Schritte, auf denen du nicht jammerst, deine Füße täten dir weh.«
»Aber sie tun weh!«
Er schüttelte resigniert den Kopf, und sie sah ihm an, daß er irgend etwas Abfälliges über die Empfindsamkeit von Edeldamen dachte, aber um ihrer Freundschaft willen nicht aussprach.
Freundschaft - da war es schon wieder, dieses Wort.
»Was ist es diesmal?« fragte sie. »Donars Hammer?«
»Reiter«, gab er zurück. »Zwei, glaube ich.« Und damit ergriff er ihren Arm und zog sie zur Rechten des Weges ins Dickicht.
Kriemhild hatte die Wälder, durch die sie seit Tagen zogen, mehr als einmal verflucht und ihnen die übelsten Feuersbrünste an die Wipfel gewünscht, doch in diesem Augenblick war sie froh über die verwobene Dichte des Unterholzes. Spätestens als sie den Vorderen der beiden Reiter erkannte, machte sie sich hinter den Büschen so klein, daß sogar Jodokus ihr einen irritierten Blick zuwarf.
»Kennst du sie?« fragte er, als der schwarze Ritter und der kleine Junge vorübergeritten waren.
»Sie suchen mich.« Kriemhild war blaß geworden. Jede Lust zu streiten, die sie noch vor wenigen Atemzügen empfunden hatte, war auf einen Schlag verschwunden.
»Wer sucht dich?«
»Meine Brüder.«
Jodokus runzelte die Stirn. »Das da waren deine Brüder?«
»Nein.« Sie schluckte und machte noch immer keinen Versuch, sich aufzurichten. Am liebsten wäre sie den ganzen Tag hier im Dreck hockengeblieben, nur um sicherzugehen, daß niemand sie entdeckte. »Der eine war Hagen von Tronje, einer der engsten Berater des Königs. Den Jungen kannte ich nicht.« Und tatsächlich verwunderte es sie, daß der finstere Hagen sich mit einem Kind abgab. Ganz abgesehen davon, daß der Junge auf ihrem eigenen Pferd geritten war, auf Lavendel!
Jodokus straffte sich und starrte sie düster an. »Ein Berater des Königs macht sich auf, dich zu suchen? Ohne Soldaten, die ihn schützen?« Er schnaubte. »Komm schon, gewiß fällt dir etwas -«
»Hagen ist sich Schutz genug«, unterbrach sie ihn scharf.
»Du mußt ihm verflucht viel bedeuten, wenn er persönlich nach dir sucht.«
»Hagen? Er handelt nur im Auftrag des Königs.«
»König Gunther?«
Sie nickte. »Mein Bruder.«.
Jodokus sah aus, als hätte sie ihm mit dem dicksten Ast, den sie finden konnte, vor die Stirn geschlagen. »Ich hätte es mir denken sollen.«
»Daß ich des Königs Schwester bin?«
Er schüttelte benommen den Kopf. »Daß ich mir mit dir nur noch mehr Ärger einhandle.«
»Einen, den die Götter jagen, sollte das nicht allzu arg belasten.«
Sein Blick verfinsterte sich einen Augenblick lang, doch dann verzogen sich seine Lippen zu einem lausbübischen Grinsen. »So groß kann der Schreck nicht gewesen sein, wenn du schon wieder anfängst zu streiten.«
Eilig rappelte sie sich auf, blickte vorsichtig aus dem Gebüsch und trat erst ins Freie, als sie ganz sicher sein konnte, daß die beiden Reiter verschwunden waren.
Von nun an würden sie Hagen jederzeit über den Weg laufen können, jetzt, da er vor ihnen war. Er verstand genug vom Spurenlesen, um bald zu bemerken, daß es keine Spuren mehr gab. Spätestens dann mußte ihm klarwerden, daß er Kriemhild längst eingeholt hatte. Und es mangelte ihm nicht an der nötigen Geduld, sie unterwegs zu erwarten.