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Sie schüttelte den Kopf. »Nur er allein. Er hat mir damals versprochen, niemals mit irgendwem über Berenike zu reden. Er würde lieber sterben, als solch einen Eid zu brechen.«

»Was dir auch nicht helfen wird, wenn er uns einholt. Er sieht aus, als könnte er ganz gut allein mit dir fertig werden - und mit Berenike noch dazu«

Kriemhild lachte hell auf. »Aber ich habe doch dich!«

Darauf fiel ihm nichts mehr ein, und so blickte er unsicher über seine Schulter zurück nach Westen. Falls Hagen sie schon verfolgte, so war er ein Teil der Finsternis.

Die Unruhe des jungen Sängers legte sich erst, als ihm bewußt wurde, daß er eine leibhaftige Prinzessin in den Armen hielt. Egal, wie auch die Umstände waren: Er spürte ihren schlanken, warmen Körper an seinem eigenen, und alle Ängste waren auf einen Schlag wie fortgewischt.

Er und Kriemhild allein in der Nacht. Leib an Leib. Ihr Haar an seinen Wangen.

Was für ein Wagnis! Was für ein Abenteuer!

»Hast du dich noch nie gefragt«, fragte Kriemhild, als vor ihnen die Sonne aufging, »wer den Unterschied zwischen einem Berg und einem Hügel festgelegt hat? Ich meine, wer hat gesagt: ›Das dort soll fortan ein Berg sein‹ und ›Das da ist ein Hügel‹?« Jodokus schaute auf. »Wen kümmert das?«

»Mich.«

»Also«, meinte er seufzend, »mir ist das völlig gleichgültig.« Es kam oft vor, daß Kriemhild über Dinge redete, die er nicht verstand. Und er hatte das Gefühl, als geschähe es immer häufiger, seit Salomes Zopf in Sichtweite war.

Die Hügelkette - oder Bergkette, denn sie war weit höher, als Kriemhild erwartet hatte - erhob sich als geschwungene Silhouette vor dem Sonnenaufgang. Das Land lag da wie in Gold getaucht. Die Straße schien geradewegs über Salomes Zopf hinweg ins Zentrum eines Feuerofens zu führen. Der Name dieses Landstrichs hatte eine gewisse Berechtigung, fand Kriemhild, denn die Berge lagen tatsächlich da wie ein geflochtener Zopf, so gleichmäßig und gerundet waren die Kuppen ihrer Erhebungen. An ihrem Fuß wuchs eine schwarze Mauer aus Bäumen empor. Jenseits davon war ein Ende der Wälder nicht abzusehen. Sie bedeckten den Höhenzug wie ein dichtes, dunkles Tuch, und Kriemhild fragte sich unwillkürlich, wie es darunter aussehen mochte, in den Schatten uralter Tannenhaine und den Tiefen zerklüfteter Felsspalten. Ein Schauder lief ihr über den Rücken; sie hätte nicht sagen können, ob sie ihn als wohlig oder warnend empfand.

»Am Waldrand trennen wir uns«, entschied sie, und ihr Tonfall verriet, daß sie keinen Widerspruch dulden würde.

»Und was wird dann aus mir?« Da war etwas in Jodokus’ Stimme, das sie nicht gleich einordnen konnte. Er war beleidigt, gewiß, aber da war auch noch etwas anderes. Sorge, vielleicht. Und nicht um seiner selbst willen.

Lieber Himmel, er machte sich tatsächlich Sorgen um sie!

Kriemhild zügelte das Pferd und warf einen Blick zurück auf die einsame Straße, über die sie gekommen waren. Keine Spur von Hagen. Überhaupt kein Anzeichen von Leben. Auch auf den Wiesen im Norden und Süden zeigten sich weder Mensch noch Tier.

Mit einem Stöhnen glitt sie aus dem Sattel und vertrat sich die Beine. Sie waren die ganze Nacht hindurch geritten, ohne Rast, ohne zu essen und zu trinken.

Jodokus sprang gleichfalls zu Boden, und sofort meldete sich sein verletztes Bein. Er keuchte auf, teils vor Überraschung, teils vor Schmerz; dann knickte das Bein ein, und er lag fluchend am Boden. Kriemhild half ihm auf die Füße.

»Danke«, sagte er und verzog das Gesicht, »es geht schon wieder. Laß uns ein paar Schritte laufen, damit ich mich daran gewöhnen kann.«

Kriemhild führte Lavendel am Zügel, und so wanderten sie weiter nach Osten. Der Waldrand unterhalb der Berge war noch einige Bogenschußweiten entfernt, aber Kriemhild schätzte, daß sie ihn erreichen würden, bevor die Sonne ein Drittel ihrer Bahn bewältigt hatte.

»Wir waren uns doch einig, oder?« sagte sie und beobachtete Jodokus aus dem Augenwinkel. »Ich muß allein zu Berenike gehen. Es geht nicht anders.«

»Hat sie das gesagt?« Trotz lag in seinem Tonfall, fast wie bei einem Kind.

Kriemhild zögerte. »Nein.«

»Woher weißt du es dann?«

»Ich... es ist eben so.«

»Du willst mich nur loswerden.«

»So ein Unsinn.«

»Der dumme Sänger hat seine Aufgabe erfüllt und darf gehen. Ganz wie bei Hofe, nicht wahr? Das letzte Lied ist gesungen, und das Fußvolk darf sich zurückziehen.«

Sie warf ihm einen mahnenden Blick zu. »Ich werde nicht schon wieder mit dir streiten.«

Jodokus schnaubte verbissen. »Dabei hätten wir zum ersten Mal einen echten Grund.«

Ein erschöpftes Seufzen kam über ihre Lippen. »Wieso willst du mitgehen? Was hast du davon?«

»Du brauchst jemanden, der dir beisteht. Das hast du selbst gesagt.«

»Aber wenn ich Salomes Zopf erreicht habe, bin ich in Sicherheit.«

»Das sagst du. Denk’ an Hagens Warnung.«

»Er hätte alles gesagt, nur um mich zurückzuhalten.«

Jodokus runzelte die Stirn. »Das klingt aber gar nicht nach dem ehrlichen Edelmann, als den du ihn beschrieben hast.«

»Es ist nicht so einfach. Man kann Hagen nicht in ein paar Sätzen gerecht werden.«

»Du magst ihn, nicht wahr?«

»Ich respektiere ihn für das, was er sein könnte, wäre er nicht der Handlanger des Königs.«

»Immerhin deines Bruders.«

Sie schüttelte den Kopf. »Hagens Treue gilt allein dem Thron, nicht den Gefühlen des Mannes, der darauf sitzt. Bei mir ist es genau umgekehrt: Ich liebe Gunther als meinen Bruder - jedoch als König...« Sie verstummte mitten im Satz, hob die Schultern und lächelte fahrig. »Ich sagte ja, es ist nicht einfach.«

»Ich glaube, du gefällst mir auch besser als Frau denn als Prinzessin.«

Sie lachte, aber ihr Blick war traurig. »Ich werde nie in meinem Leben etwas anderes sein als eine Prinzessin. Das ist mein Schicksal, fürchte ich.«

Er schwieg eine Weile, dann fragte er: »Hat man je davon gehört, daß eine Prinzessin und ein fahrender Sänger...«

»Zusammen reisen?«

Er schaute zu Boden. »Ja. Das war es wohl, was ich meinte.«

Kriemhild lächelte. »Ich glaube, es kommt nicht oft vor.«

Da kreuzten sich ihre Blicke, und sie hatten plötzlich Mühe, ernst zu bleiben, obgleich doch beiden so schwer ums Herz war. Jodokus’ Schmerzen wurden schlagartig besser, und bald schon stiegen sie wieder auf Lavendels Rücken.

»Ein Rätsel«, sagte Jodokus plötzlich. »Was ist das: Zwei geben es und fünf nehmen es?«

Kriemhild überlegte vergeblich. »Sag’s mir.«

»Nasenrotz.« Und darüber lachte er so herzlich und roh, daß Kriemhild nicht anders konnte, als einzufallen.

Und so ritten sie weiter, lachten viel und redeten Unsinn, während vor ihnen die Sonne höher stieg und die Schatten der Bäume kürzer wurden.

Aus der Nähe besehen wirkte Salomes Zopf nicht mehr ganz so ebenmäßig und kunstvoll in die Landschaft drapiert wie von fern. Die Bergkuppen waren zerklüfteter, als es am Morgen den Anschein gehabt hatte, und selbst dort, wo der Wald noch nicht Fuß gefaßt hatte und die Erde weitgehend eben war, zeigten sich erste Spalten im Boden, so daß sie achtgeben mußten, wohin Lavendel die Hufe setzte.

Sie hatten den Waldrand kaum erreicht, als Jodokus bei einem seiner regelmäßigen Blicke über die Schulter etwas entdeckte.

Er gab Kriemhild einen sanften Stoß. »Sieh dir das an!«

Sie folgte seinem Blick und entdeckte einen dunklen Punkt im Grün der Wiesen, unweit der Straße und noch viele Bogenschußweiten entfernt. Als sie die Augen zusammenkniff, erkannte sie, daß es ein Pferd war. Darauf saßen zwei Gestalten, eine groß und dunkel, die andere klein und verloren.