»Wie lange werden sie brauchen, ehe sie hier sind?« fragte Jodokus.
»Hagen wird sein Pferd nicht schonen«, gab Kriemhild nachdenklich zurück. »Aber ich glaube, im Wald wird er uns kaum wiederfinden.«
Jodokus starrte immer noch aufmerksam ihren Verfolgern entgegen. »Den Jungen hat er also tatsächlich mitgenommen.«
»Vielleicht ist das gar nicht so sonderbar.«
»Wie meinst du das?«
Aber Kriemhild hatte ihre Aufmerksamkeit schon wieder dem Waldrand zugewandt. Die Bäume standen ungemein dicht und waren von verschlungenem Dickicht durchwoben. »Wir müssen einen Weg hinein finden.«
Die Straße führte, von zahlreichen Rissen durchbrochen, bis zu den Wurzeln der vorderen Bäume. Dort aber schien es, als habe der Wald ihren weiteren Verlauf regelrecht verschluckt; zwischen Ranken und Büschen war kein einziger Pflasterstein zu erkennen. Auch war es seltsam, daß die Spalten im Boden offenbar erst entstanden waren, nachdem die Straße angelegt worden war. Etwas mußte die Erde bis in ihre Grundfesten erschüttert haben, um solche Zerstörungen zu bewirken.
Statt sich aber von diesen Beobachtungen beunruhigen zu lassen, fühlte Kriemhild sich durch sie nur in der Überzeugung bestärkt, daß ihr Entschluß der richtige war. Dies war ein mächtiger Ort, und Berenike mußte eine mächtige Frau sein, wenn sie hier lebte. Mächtig genug, das Elend der Pest zu beenden.
»Sieht aus, als müßten wir uns durch die Büsche schlagen«, sagte Jodokus und wirkte dabei nicht allzu glücklich.
»Du kannst immer noch hierbleiben.«
»Und dich allein da reingehen lassen? Kommt gar nicht in Frage.«
»Du wirst mir nur deine Götter auf den Hals hetzen.« Sie hatte scherzhaft klingen wollen, dabei aber vergessen, daß er in diesem Punkt keinen Spaß verstand. Er wurde sofort kreidebleich, als hätte er viel zu lange keinen Gedanken an die Gefahr verschwendet, die er zu Anfang ihrer gemeinsamen Reise gar nicht oft genug hatte heraufbeschwören können.
Um ihn abzulenken, sagte Kriemhild schnelclass="underline" »Du mußt mir etwas versprechen.«
»Was?« Seine Stimme schwankte noch immer, als sei er im Geiste ganz woanders.
»Sobald wir an Berenikes Schwelle stehen, werden wir uns trennen.«
»Keine Sorge«, entgegnete er gefaßt. »Ich bin nicht wild darauf, diesem Weib gegenüberzutreten. Obwohl ihr die Begegnung mit einem rechten Mann vielleicht ganz guttäte.«
»Du bist ein Scheusal!«
»Sie muß häßlich wie die Nacht sein, wenn sie es nötig hat, sich an solch einem Ort zu verstecken.«
»Jodokus!« Kriemhild tat empört und unterdrückte ein Grinsen. »Nicht jeder ist so aufs Äußere bedacht wie du.«
»Ein Glück für dich! Wer weiß, ob es ein anderer so lange mit dir ausgehalten hätte.«
Kriemhild rümpfte die Nase, dann stieg sie vom Pferd und näherte sich zu Fuß dem Wald. Von seiner Wildheit und Unzugänglichkeit abgesehen, wirkte er nicht gefahrvoller als jeder andere Forst im Burgundenreich. Dennoch überkam sie Beklommenheit.
»Was geschieht mit dem Pferd?« fragte Jodokus, als auch er zu Boden sprang.
»Es gehört dir.«
»Unsinn. Du brauchst es für den Rückweg.«
»Ich bin sicher, Berenike wird mir helfen, nach Hause zu kommen. Auf ihre Weise.«
»Ich an deiner Stelle würde nicht so großes Vertrauen in diese Hexe setzen.«
»Und ich an deiner Stelle würde in Berenikes Wald meine Zunge hüten.«
Er schnitt ihr eine Grimasse, dann meinte er: »Das Pferd kann ich trotzdem nicht annehmen.«
»Dann muß es wohl verhungern.«
Er trat auf sie zu und ergriff ihre Hand. Diesmal ließ sie es zu, genoß die Berührung sogar. »Du weißt«, sagte er sanft, »daß Lavendel und ich hier draußen auf dich warten werden, nicht wahr? Egal, wie lange es dauern wird.«
Da umarmte Kriemhild ihn und kämpfte mit den Tränen.
Bald schon aber mußten sie aufbrechen. Sie hatten fest damit gerechnet, das Pferd zwischen den äußeren Bäumen anbinden zu müssen - ein wenig abseits, damit Hagen nicht darauf stieß -, so daß Jodokus den Schimmel bei seiner Rückkehr befreien konnte. Jetzt aber, als Kriemhild zwischen die vorderen Bäume trat, da war es, als sei dort plötzlich eine Schneise entstanden, sehr schmal und leicht zu übersehen. Und doch war Kriemhild sicher, daß sie vorher nicht dagewesen war. Sie mochte sich täuschen, doch als sie Jodokus danach fragte, meinte auch er, die Schneise früher nicht bemerkt zu haben.
Der Einschnitt war gerade breit genug, daß Lavendel hindurch paßte. Kriemhild nahm es als weiteren Beweis von Berenikes Kräften hin, und ihre Hoffnungen bekamen neuen Auftrieb. Mit frischem Mut machte sie sich auf den Weg, führte den Schimmel am Zügel, während Jodokus hinterherging. Der Sänger blickte mit umwölkter Stirn auf die Wurzeln und Äste, welche die Seiten der Schneise bildeten. Es gab keine Spuren von Axthieben; tatsächlich schien es, als sei der Weg auf natürliche Weise entstanden. Jodokus erwartete sorgenvoll, daß er sich jeden Moment um sie schließen mochte, wie das verholzte Maul eines Waldriesen. Doch nichts rührte sich. In den Baumkronen sangen die Vögel, kleines Getier wieselte zwischen den Stämmen umher, und nichts wies darauf hin, daß dies ein Ort der Verderbtheit oder Schwarzer Magie war. Vielleicht, so meinte er schließlich, hatte Kriemhild doch recht. Dann aber fiel ihm der Preis ihrer Unschuld ein, und er sagte sich, daß niemand, der Gutes im Sinn führte, so etwas von ihr verlangen würde.
Kriemhild dagegen schritt schneller aus, je höher sie in die Berge stiegen. Sie war überzeugt, daß der Pfad sie zum Haus der Erzhexe führen würde. Ihr Zögern beim Anblick des Waldes war gänzlich geschwunden, vielmehr schien er ihr nun in seiner urtümlichen Wildheit schön und wundersam. Der Schimmel zögerte manches Mal, bevor er einen Schritt machte, doch Kriemhild achtete kaum darauf. Einmal ertappte sie sich dabei, daß sie das Pferd und Jodokus einen Moment lang völlig vergessen hatte, aber sie schob es auf ihre Aufregung und die freudige Erwartung.
Sie waren bereits eine ganze Weile bergauf marschiert, als Kriemhild plötzlich stehenblieb. Der Einschnitt führte über eine Erhebung und verschwand auf der anderen Seite aus ihrem Blickfeld. Jenseits des Erdbuckels ragten in weiter Ferne zwei Türme aus grauem Bruchstein empor.
»Wir sind da«, flüsterte sie zu sich selbst, als hätte irgendwer Zweifel daran geäußert.
Jodokus drängte sich ächzend an Lavendels Pferdeleib entlang, wobei ihm das dichte Astwerk die Haut zerkratzte. Leise vor sich hin schimpfend kam er neben Kriemhild zum Stehen. Zögernd folgte er ihrem Blick hinüber zu den Türmen.
Beide waren mindestens ebenso hoch wie die höchsten Bauten der Königsburg zu Worms. Dabei wirkten sie nicht halb so düster, wie Kriemhild es vom Hort einer Hexe erwartet hatte. Die Sonne badete die Türme in ihren Strahlen und verlieh den Mauern einen goldgelben Glanz. Die Dächer waren spitz und aus dunklem Schiefer; von beiden flatterten rote Fahnen. Auf einem stand gar ein bronzener Wetterhahn, der sich langsam im Wind drehte.
»Ich glaube, den Rest des Weges kann ich allein gehen«, sagte Kriemhild, ohne den Blick von den Türmen zu nehmen.
Jodokus blieb argwöhnisch. »Nur noch ein Stück. Ich will sehen, wie das Ganze aus der Nähe aussieht.«
»Wie soll es schon aussehen?«
»Warten wir’s ab.«
So zogen sie weiter, jetzt nebeneinander, während Lavendel widerwillig folgte. Sie überschritten die Kuppe und sahen, daß der Weg dahinter schnurgerade in ein weitläufiges Tal hinabführte. Rund um die Türme zog sich eine Mauer. Zu Kriemhilds Überraschung lag das Anwesen auf einer Klippe, die sich über dem nebelverhangenen Grund der Senke erhob. Darunter war das Waldland gänzlich von grauem Dunst verschleiert, nur hier und da stachen die Wipfel einiger Fichten düster aus den bleichen Schlieren.