Der Weg führte nicht am Talboden durch den Wald, sondern über einen natürlichen Felsendamm, der sich oberhalb des Nebels bis zur Klippe erstreckte. Eine verwunschene Stimmung lag über dem Tal und den beiden Türmen, die es bewachten, doch nicht einmal Jodokus hätte sie als abweisend oder gar feindselig beschreiben können. Der Sänger hatte während seiner Wanderschaft viele Herrschaftssitze gesehen, und dieser hier unterschied sich äußerlich kaum von den übrigen. Und doch schien eine sonderbare Atmosphäre in der Luft zu liegen, beinahe ein Knistern, als wäre das ganze Tal von Magie erfüllt. Am liebsten hätte er Kriemhild ergriffen und sich mit ihr auf dem schnellsten Weg davongemacht. Aber ein Blick in ihr Gesicht genügte, um zu erkennen, daß sie niemals freiwillig umkehren würde. Berenike hatte sie längst in ihren Bann geschlagen, ganz gleich, ob er zauberischer Natur war oder nicht.
»Von jetzt an gehe ich alleine weiter«, sagte Kriemhild, und diesmal verriet ihr Tonfall nur zu deutlich, daß sie Widerspruch nicht dulden würde.
»Wie du meinst«, erwiderte Jodokus betrübt, um dann schnell hinzuzufügen: »Willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen? Du mußt doch fühlen, daß hier -«
»Versuche nicht, mich umzustimmen.« Und plötzlich sah sie ihm in die Augen und lächelte. »Bitte, Jodokus. Ich bin diesen Weg nicht gegangen, um so kurz vor dem Ziel aufzugeben. Es ist meine Entscheidung, mein Wille, und das solltest du akzeptieren.«
»Du bist eine Prinzessin«, entgegnete er leise, »und du kannst mir befehlen, daß ich -«
»Nein!« widersprach sie, aber es klang sanft, nicht abweisend. »Ich würde dir niemals einen Befehl geben. Du bist mein Freund, oder?«
»Und gerade deshalb meine ich, wir sollten umkehren.«
»Kehre du um. Und warte ein, zwei Tage auf mich, wenn du das wirklich möchtest. Wenn ich dann noch nicht zurück bin...« Sie verstummte und zuckte gelassen mit den Schultern, ohne jede Spur von Traurigkeit. Es war, als verabschiedete sie sich, um in ein Kloster einzutreten; sie löste sich von allem Weltlichen und vertraute sich einer Macht an, die jenseits menschlichen Begreifens lag.
Und vielleicht war es ja genau das, was Jodokus solchen Kummer bereitete. Aber er wußte, es würde keinen Sinn haben, ihr das zu erklären.
Sie verabschiedeten sich sehr förmlich, als sei es ihnen unangenehm, etwas zu überspielen, von dem sie doch beide wußten, daß es da war. Sie küßten sich nicht.
Jodokus nahm Lavendel am Zügel, und der Schimmel hatte einige Mühe, sich in der engen Schneise umzuwenden. Als es ihm endlich gelungen war, verschwand Kriemhild aus Jodokus’ Sicht, und er fragte sich, was sie wohl denken mochte, während sie sich voneinander entfernten.
Wahrscheinlich war sie in Gedanken schon bei der Hexe, und er selbst war längst vergessen.
Jodokus beschäftigte sie, beinahe gegen ihren Willen. Kriemhild wollte sich auf das konzentrieren, was vor ihr lag, auf Berenike und auf ihr weiteres Schicksal. Und doch schob sich das Antlitz des Sängers immer wieder vor ihre Augen, und seine Worte über Götter, den Dichtermet und die grausamen Spiele der Unsterblichen klangen noch lange in ihren Ohren nach. Sie hätte ihn zum Abschied gerne umarmt, hätte ihm gerne gestanden, wie wichtig es für sie war, daß er sie hierher begleitet hatte, doch etwas hatte sie daran gehindert. Sie wünschte sich, es auf Berenike und ihren Einfluß schieben zu können, doch in Wahrheit war es etwas ganz anderes: ihre Erziehung als stolze, unnahbare Schwester eines Königs. Der Fluch, eine Prinzessin zu sein.
Ihre Empfindungen zerrten sie entzwei zwischen Bedauern um den verlorenen Freund und einer ungewohnten Euphorie über Berenikes Nähe. Zum erstenmal gelang es Kriemhild, sich selbst die Frage zu stellen, ob die Hexe tatsächlich einen Zauber über sie gesprochen hatte.
Wiewohl, dieser Augenblick der Klarheit verflog geschwind und mit ihm alle Gedanken an Jodokus. Die Erinnerung an ihn verflüchtigte sich in einen verborgenen Winkel ihrer selbst, und dort mochte sie weiter gedeihen und sich eines Tages erneut bemerkbar machen - oder aber vollends verkümmern.
Kriemhild wanderte mit weiten Schritten den Pfad hinab. Es war deutlich zu erkennen, daß dies kein Weg war, der häufig benutzt wurde. Tatsächlich war der schmale Einschnitt mit dichtem, unberührtem Gras bewachsen, das keinerlei Spuren von Füßen oder Hufen zeigte.
Endlich erreichte sie jene Stelle im unteren Teil des Abhangs, an der die Bäume zu beiden Seiten zurückblieben und der Weg hinauf auf den schroffen Felsenwall führten, der sich wie ein Band über das dunstige Nebelmeer bis zur Klippe und den beiden Türmen spannte. Aus der Nähe erkannte sie, daß sich hier vor Äonen die Felsen von rechts und links gegeneinander geschoben und dabei einen Aufwurf gebildet hatten. Gewaltige Steinschollen stachen in bizarren Winkeln in die Höhe und bildeten die Flanken des Damms. Manche von ihnen fielen so steil in die Tiefe, daß ein Sturz unweigerlich in den Tod führen mußte; andere Oberflächen hingegen waren derart zerfurcht, daß sich in ihren Spalten und Winkeln Gesträuch und kleine Bäume angesiedelt hatten. Irgendwann einmal mußten hier gewaltige Kräfte die Erde erschüttert haben. Kriemhild erinnerte sich an die verschwundene Straße und fragte sich plötzlich, wie lange diese Erschütterungen tatsächlich zurückliegen mochten; vielleicht nicht gar so lange, wie der Anblick des Felsenkammes einen glauben machte.
Es war ein seltsames Gefühl, dem Hochweg über den Nebel zu folgen, weit über den höchsten Fichtenwipfeln. Der Wind pfiff kühl um Kriemhilds Wangen und erfüllte die Luft mit beständigem Säuseln. Raubvögel schwebten am Himmel, schwarze Sicheln, die auf der Suche nach Beute ihre Kreise zogen. Die Sonne hatte längst ihren höchsten Punkt erklommen, und dennoch wollten sich die Schwaden nicht vom Talboden lösen. Das Licht brach sich in den oberen Schichten des Nebels und erfüllte ihn mit geisterhaftem Leuchten. Der Dunst bildete wundersame Formen, und Kriemhild mußte den Blick abwenden, um nicht Gesichter und Alptraumwesen darin zu erkennen. Aus den Wäldern drang kein Laut herauf, nichts Lebendiges zeigte sich auf dem Weg zum Hexenhort. Allein der Wind blieb unsichtbar an Kriemhilds Seite und schien ihr Botschaften in einer geheimen Sprache zuzuraunen, die niemand außer ihm selbst verstand.
Im Näherkommen entdeckte sie, daß die beiden Türme keineswegs von der Mauer umringt wurden, wie sie von weitem angenommen hatte, sondern vielmehr darin eingelassen waren. Zwischen ihnen gab es ein offenes Tor, halb so hoch wie die Mauer, das ins Innere der Anlage führte. Ein paar Dachfirste, die über die Zinnen hinausragten, ließen auf weitere Gebäude jenseits der Ummauerung schließen. Was aus der Ferne nach einem stattlichen Anwesen ausgesehen hatte, erwies sich nun als regelrechte Festung. Kriemhild fragte sich, ob es teil von Berenikes Schutzzaubern war, daß sich der Anschein des Gemäuers mit jedem Schritt unmerklich zu verändern schien.
Rund fünfzig Schritte trennten sie noch von dem Torbogen, als sich vor ihr, an der rechten Seite des Hochweges, etwas rührte. Kriemhild schrak zurück, wollte sich herumwerfen und fliehen, doch es war bereits zu spät.
Eine Gestalt schob sich zwischen den Rändern der Felsschollen ins Sonnenlicht, gefolgt von einer zweiten. Auch auf der anderen Seite des Weges kletterte flink ein Mann empor, wie die beiden übrigen in Rüstzeug aus Leder und Eisenschuppen gehüllt. Alle drei trugen Stiefel aus glattem Fell, das aussah, als stammte es von Pferden. Einer hatte in sein eigenes pechschwarzes Haar einen langen Roßschwanz eingeflochten, den er vom Hinterkopf über die Schulter bis auf die Brust gelegt hatte. Die Männer trugen fremdartigen Schmuck aus Leder und Tierzähnen und riefen sich Worte zu, die verzerrt und zischelnd klangen.
Am alarmierendsten aber waren ihre Augen; Kriemhild bemerkte sie erst, als zwei der Männer ihre Arme packten. Sie waren geschlitzt und schrägstehend, die Brauen schwarz wie mit Tinte gezogen.