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Weitere Gestalten erschienen am Tor und auf den Zinnen. Einige trugen schalenförmige Helme, rundherum mit Fell abgesetzt; obenauf saßen scharfe Eisenspitzen.

Kriemhild konnte schreien und fluchen wie sie wollte, sie trat und drohte mit der Macht des Königs, doch es änderte nichts an ihrer Lage. Als Gefangene wurde sie vor Berenikes Tor geführt, wo ihr ein schlanker Krieger entgegentrat. Er war jünger als die übrigen und trug eine bronzefarbene Rüstung, reichverziert mit sonderbaren Mustern. Um seine Schultern lag ein Mantel von dunklem Violett, schimmernd wie ein Stück Sternenhimmel.

»Verzeiht die grobe Behandlung, Prinzessin Kriemhild«, sagte er mit hartem Akzent und gab seinen Männern einen Wink. Augenblicklich ließen sie ihre Arme los und zogen sich zwei Schritte zurück. »Ich bin der Hauptmann dieser Schar und seit zwei Nächten Herr dieser Festung.«

»Ihr kennt meinen Namen«, entgegnete Kriemhild und bemühte sich verzweifelt, gefaßt zu erscheinen, »aber Ihr nennt mir nicht den Euren. Ist er mit Schande haftet, so daß Ihr Euch dafür schämen müßt?«

Ein bedrohliches Funkeln glomm in seinen schwarzen Augen auf, verschwand jedoch innerhalb eines Atemzuges. »Verzeiht noch einmal«, sagte er förmlich und versuchte sich an einer galanten Verbeugung, eine Geste, die es in seiner Kultur nicht gab. »Mein Vater ist der Herrscher des Ostens, der König aller Hunnen. Ich bin Prinz Etzel, sein erstgeborener Sohn.«

Jodokus hatte eigentlich erwartet, während seines Rückweges zum Waldrand auf neue Hindernisse zu stoßen: Stämme, die sich verschoben hatten und den Pfad blockierten, Wurzeln, die nach seinen Beinen griffen und sich wie Schlaufen zusammenzogen, Äste, die in sein Gesicht peitschten. Doch nichts dergleichen zeigte sich.

Sosehr Jodokus sich darüber freute, es nicht gar so beschwerlich zu haben, so sehr bereitete ihm derselbe Umstand auch Sorgen. Denn wenn der Pfad für ihn da war, dann war er es auch für jeden anderen, und das bedeutete, daß Hagen von Tronje ihm früher oder später entgegenkommen würde.

Der Augenblick kam schneller, als er befürchtet hatte, und weder rechts noch links boten sich mögliche Fluchtwege im Dickicht. Die Konfrontation war unvermeidbar.

Wie er selbst führte auch Hagen sein Pferd am Zügel. Jodokus hätte nicht zu sagen vermocht, wer ihm bedrohlicher erschien: das schreckliche Schlachtroß, hoch und breit wie ein Feuerdrache, oder aber der schwarzgerüstete Krieger mit seinem einen Auge, das so dunkel war, daß es ebenso eine leere Höhle hätte sein können. Sehr plötzlich, sehr unbegründet und in keinster Weise der üblen Lage angemessen, spürte Jodokus den brennenden Wunsch, unter die schwarze Binde zu schauen, die Hagens linkes Auge bedeckte. Wenn ihm sein rechtes, das gesunde, schon so bedrohlich erschien, wie mußte dann erst die Wunde aussehen, an welcher der Recke links erblindet war? Ein unschöner Gedanke und eine passende Strafe für soviel Neugier.

Der kleine Junge saß wortlos in Hagens Sattel und musterte Jodokus mit haßerfülltem Blick, der verriet, wie gut er sich an die Nacht und den Pferdediebstahl erinnerte.

»Erschlagt mich nicht, Herr«, bat Jodokus schon von weitem, hatte sich aber zumindest so weit im Griff, daß er nicht auf die Knie fiel. Doch der Sänger mochte sich aufrecht halten wie er wollte - Hagen überragte ihn um mehr als eine Haupteslänge. Jodokus mußte zu ihm aufblicken, als sie in zwei Schritten Entfernung stehenblieben. Selbst, wenn sie gewollt hätten, hätten sie sich nicht aneinander vorbeizwängen können, die Schneise war viel zu eng.

Hagen griff nicht nach seinem Schwert, wie Jodokus angstvoll erwartet hatte. Doch auch das änderte nichts an der bedrohlichen Aura des Kriegers.

»Ich fürchte, ich habe Euren Zorn erregt«, begann Jodokus und faßte den Plan, Hagen durch ein Geständnis besänftigen. »Natürlich wißt Ihr, daß ich der Prinzessin zur Seite stand, als sie sich Euch widersetzte, und ich muß gestehen, ich bin froh, daß es ihr gelang. Denn, das solltet Ihr nicht vergessen, sie ist die Schwester des Königs und ihr Wille ist -«

»Fahre fort mit deinem Geschwätz, Sänger, und ich nagle deine Zunge an den höchsten Baum dieses Waldes.« Hagens Gesicht blieb todernst, selbst als er hinzufügte: »Ohne sie vorher herauszuschneiden!«

Der kleine Junge zeigte ein breites Grinsen, als sei solch eine Maßnahme ganz nach seinem Geschmack.

Jodokus’ Magen wurde zu einem Felsblock, dessen Gewicht ihn zu Boden zu ziehen drohte. »Nun«, meinte er mit schwankender Stimme, »sicher ist Euch danach, mir übel zuzusetzen, und gewiß habt Ihr von Eurer Warte aus allen Grund dazu. Dennoch muß ich -«

»Wo ist sie?«

»Sie ist... Herr, sie ist bei Berenike.« Jodokus schluckte. »Wenigstens sollte sie jeden Moment bei ihr eintreffen.«

Es war, als fiele von oben der Schatten einer Wolke über Hagens Gesicht. Doch der Himmel war klar und von gleißendem Sonnenlicht erfüllt, und Jodokus erkannte sogleich, daß allein seine Worte die Ursache der Verfinsterung waren.

»Geh aus dem Weg!« verlangte Hagen.

Jodokus sah sich hektisch nach allen Seiten um. »Aber, Herr, wohin soll ich gehen. Ihr seht doch, daß nirgendwo ein Durchkommen ist in diesem furchtbaren Wald.«

»Wenn du im Ganzen nicht durch die Sträucher paßt, werde ich dich wohl oder übel in Stücke schneiden müssen.« Und schon legte der Krieger die Hand auf den Schwertgriff.

»Nein, nein!« rief Jodokus hastig aus. »Gewiß werden wir eine Lösung finden.«

»Wir sollten sie schnell finden, sonst ist die Prinzessin verloren.«

»Verloren, Herr? Ich weiß, daß Berenike einen schlechten Ruf hat, aber gewiß ist sie nicht so -«

»Berenike?« Hagens Auge blitzte zornig. »Es geht nicht um Berenike. Und nun mach endlich Platz!«

Nicht um Berenike? Jodokus legte verwundert den Kopf schräg. »Ich... ich könnte mit dem Pferd rückwärts gehen, Herr. Ich richte mich gerne nach Eurer Richtung.«

»Dann tu es schnell.«

Jodokus trieb den Schimmel dazu, rückwärts zu laufen, was Lavendel augenscheinlich wenig Freude bereitete. Dennoch gehorchte er, und Jodokus kam sich äußerst armselig vor, als er so vor Hagen, seinem Pferd und dem grinsenden Jungen zurückwich.

»Sagt, Herr«, bat Jodokus, während sie in solch wundersamer Reihe bergauf marschierten, »was habt ihr damit gemeint, daß es nicht um -«

»Schweig!« verlangte Hagen und zeigte damit einmal mehr seine schlechte Angewohnheit, anderen das Wort abzuschneiden.

»Aber, Herr«, sagte Jodokus beharrlich, »wie sollen wir die Prinzessin retten, wenn ich nicht weiß, gegen welchen Feind es geht?«

»Mag sein, daß ich dich am Leben lasse, Sänger«, knurrte Hagen, »doch jene anderen werden weniger großmütig sein.«

»Und wer sind diese anderen?«

Hagen schwieg, doch statt seiner gab der Junge eine Antwort.

Es muß dem Kleinen gut gefallen haben, mitanzusehen, wie Jodokus’ Kinnlade bis zur Brust hinabsackte und alle Farbe aus seinen Zügen wich, als wäre er mit den Füßen ins Eis eines Wintersees eingebrochen.

Kapitel 6

Kriemhild war jung, aber sie war auch die Schwester des Königs, und so hatte man sie auf manches vorbereitet, das einem Fräulein ihres Standes zustoßen mochte. Sie konnte recht gut mit dem Dolch und leidlich mit einem Schwert umgehen (wenn auch nicht gut genug, um einen der Hunnen damit zu beeindrucken). Sie war eingewiesen in die Regeln der Politik und Diplomatie, und sie wußte, wie sie sich im Fall einer Begegnung mit Feinden des Reiches zu verhalten hatte. Niemals nachgeben, hatte man sie gelehrt, immer burgundischen Stolz und königliche Kühnheit zeigen. Man hatte sie sogar mit der furchtbarsten aller Möglichkeiten, einer Schändung durch gegnerische Krieger, vertraut gemacht, indem man ihr Frauen vorstellte, die solche Schrecken durchgemacht hatten und ihr von ihren Erlebnissen berichteten. Kurzum, Kriemhild wußte, was sie in den Klauen der Hunnen zu erwarten hatte.