Worauf sie jedoch niemand vorbereitet hatte, das war Etzels ausgesuchte Höflichkeit.
Der Hunnenprinz schien sich in vorzüglichem Benehmen übertreffen zu wollen, beinahe, als sähe er in Kriemhild einen hochgestellten Gast, keine Gefangene. Doch auch seine tadellose Oberfläche hatte den einen oder anderen Riß, und so litt jede Geste, jedes Wort, gar jeder Blick am Beigeschmack des Einstudierten. Etzel mochte ernst meinen, was er sagte, aber auf Kriemhild wirkte es wie die Darbietung eines talentierten Gauklers, der für eine Weile sein wahres Wesen abstreifte und in die Haut eines anderen schlüpfte. Und ganz gleich, wieviel Mühe der Prinz sich geben mochte, so war ihm doch die Haut eines Edlen von burgundischem Zuschnitt um einiges zu groß. Das wenigstens war es, was Kriemhild empfand, besser: empfinden wollte. Denn nach einer Weile an Etzels Seite konnte sie eine gewissen Achtung vor seinen Bemühungen nicht leugnen, und ihre Furcht, die sie so mühsam zu überspielen suchte, legte sich ein wenig.
Etzel stieg mit ihr eine Treppe zum Wehrgang der Ummauerung hinauf, als sie fragte: »Ihr wißt, wer ich bin, Prinz, und dennoch gebt Ihr Euch alle Mühe, mir gefällig zu sein. Wie könnt Ihr das erklären?«
Die Leibgarde des Prinzen war auf seinen Befehl hin im Hof zurückgeblieben. Er wandte sich auf der Treppe zu Kriemhild um und sagte: »Man muß Euch wenig Vorteilhaftes über mein Volk gelehrt haben, wenn Eure Erwartungen so barbarisch sind. Was, glaubt Ihr, sollte ich einer Gefangenen wie Euch wohl antun?«
»Sicher ist es nicht nötig, Euch dazu eine Anleitung zu geben, Prinz.«
Er lächelte, aber es wirkte nicht allzu vergnügt. »Meine Krieger sind ebensolche Männer wie die Euren daheim in Worms, mit den gleichen Gelüsten, der gleichen Liebe zu ihrer Heimat und oft auch der gleichen Grausamkeit. Was immer man Euch über Heldentaten im Krieg erzählt hat, Prinzessin, vergeßt es am besten wieder, bis Ihr selbst erlebt habt, was Haß und der Tod geliebter Menschen aus einem Mann zu machen vermögen. Plünderung, Schändung, Folter - all das sind Dinge, derer sich Eure Kämpfer genauso schuldig machen wie die meinen. Ich kann Euch versichern, daß der Ruf der burgundischen Krieger bei mir zu Hause nicht freundlicher ist als der unsere bei Euch.«
Kriemhild rümpfte die Nase. Über ihre Lippen kam eine auswendiggelernte Formel, nicht das, was sie wirklich empfand: »Die Ritter des Burgundenreichs sind weithin für ihre Ehre bekannt, Prinz Etzel. Was man von den Euren nicht gerade behaupten kann.«
Zu ihrer Überraschung zeigte er kein Zeichen von Zorn. »Ihr sprecht so, weil Ihr uns nicht kennt. Wir dagegen wissen fast alles über Euch. Verratet mir, zum Beispiel, ob Ihr je zuvor meinen Namen gehört habt.«
»Nein«, gestand sie.
»Seht Ihr«, erwiderte er zufrieden. »Ich bin Euch unbekannt, während Ihr für mich wie eine Verwandte seid. Schon bevor ich Euch traf, kannte ich Euer Aussehen, Eure Wildheit, Eure zänkische Art.«
Kriemhild riß erbost die Augen auf, zog es aber vor zu schweigen.
Etzel lächelte, während er ihr den Vortritt zum Wehrgang ließ. »Ich hörte einiges über die Art und Weise, mit der Ihr Euch bei Hofe gebt, Prinzessin. Ihr seid nicht leicht zu bändigen. Das spricht für Euch.«
»Vielen Dank«, brummte sie finster.
Er lachte. »Ich verstehe Euch besser, als Ihr meinen mögt. Nur eines begreife ich nicht - werdet Ihr mir daher eine Frage gestatten?«
»Ihr mögt Eure Männer am Fuß der Mauer zurückgelassen haben, aber ich bin sicher, sie wären schnell mit den Klingen bei der Hand, würde ich mich Euren Wünschen widersetzen.«
Er schüttelte ein wenig resigniert den Kopf. »Warum habt Ihr Euch in der Zeit, in der Ihr hier seid, nicht ein einziges Mal nach der Herrin dieser Festung erkundigt? Zu ihr wolltet Ihr doch, nicht wahr?«
»Ich nahm an, Ihr habt sie getötet - so, wie es Art der Hunnen ist.« Einen Moment lang fürchtete sie, den Bogen überspannt zu haben, doch auch diesmal blieb Etzel ruhig. Falls ihre Worte ihn getroffen hatte, so hielt er seine Wut im Zaum.
Statt dessen nickte er langsam. »Es ist Art der Sieger, die Erinnerung an die Verlierer auszulöschen. Und ich gestehe, ich mußte meine Männer davon abhalten, dieser Hexe die Haut abzuziehen.«
Kriemhild schöpfte neue Hoffnung. »Dann lebt sie?«
Mit einem weiteren Kopfnicken sagte er: »Sie lebt, wenn auch um eines hohen Preises willen.«
»Ich bin sicher, mein Bruder wird ihn zahlen.« Tatsächlich war sie sich dessen alles andere als sicher, doch der Gedanke, daß ihre Reise möglicherweise doch nicht umsonst gewesen und Berenike am Leben war, erfüllte sie mit Freude. Vielleicht würden sie die Pest doch noch besiegen können, bevor die Seuche Worms und die westlichen Länder erreicht hatte!
»Der Preis, von dem ich sprach«, sagte er betrübt, »ist keiner, den Euer Bruder zahlen könnte.« Er blieb stehen, stützte sich mit beiden Händen auf die Zinnen und blickte über das nebelverhangene Tal hinweg. »Ich allein habe diesen Preis zu zahlen.«
»Ihr, Prinz Etzel?«
Er fuhr sich mit einer Hand durch seinen pechschwarzen Haarschopf. »Eine Schuld, die mich in meine Träume verfolgen wird, dessen seid gewiß.«
Sie lehnte sich neben ihm an einen der brusthohen Steinquader und versuchte, von der Seite seinen Blick einzufangen. Doch Etzel schaute nur gedankenverloren über den milchigen Dunst nach Osten.
»Von welcher Art Preis sprecht Ihr?« Plötzlich überkam sie ein schmerzhaftes Gefühl der Vorahnung, ohne daß sie ihre Befürchtung in Worte hätte fassen können.
»Ich will es Euch zeigen, Prinzessin«, sagte er, löste sich vom Zinnenkranz und ging weiter den Wehrgang entlang. »Deshalb habe ich Euch hier heraufgeführt.«
Im Inneren der Ummauerung gab es eine Reihe von Häusern, deren Dachgiebel den Blick auf die andere Seite der Zinnen verwehrten. Kriemhild und Etzel mußten fast die gesamte Anlage umrunden, ehe sie ans Ziel gelangten. Kurz vorher verstellte der Prinz Kriemhild noch einmal den Weg. »Was Ihr sehen werdet«, sagte er traurig, »geschieht nicht auf meinen Wunsch hin. Aber manchmal muß auch ein Rudelführer dem Willen seiner Wölfe folgen. Und meine Wölfe wollen das Blut dieser Hexen.«
Kriemhild starrte einen Moment lang in seine schmalen, dunklen Augen und wunderte sich über die sonderbare Melancholie darin. Dann schob sie ihn grob beiseite und setzte eilig ihren Weg über den Wehrgang fort.
Und endlich sah sie, was er meinte.
Im nördlichen Teil der Festung, gleich unterhalb der Mauer, gab es einen kleinen Platz aus Pflastersteinen. Eine stattliche Anzahl von Hunnenkriegern hatte sich dort versammelt und folgte mit starren Blicken einem grausamen Schauspiel. In der Mitte des Platzes war aus Weidenzweigen und Brettern eine riesige Gestalt errichtet worden, fast so hoch wie der Wehrgang. Ein breiter Leib und gehörnter Schädel, beides aus hölzernem Gitterwerk, erhob sich wie ein archaischer Hohepriester inmitten der Hunnenschar.
Der Bauch der Holzgestalt war hohl. Einen Einstieg an der Vorderseite hatten die Hunnen mit straff gespannten Seilen versperrt. Ein gutes Dutzend Hände kratzte und zerrte von innen an den Knoten, vergeblich. Verzweifelte Schreie drangen aus dem Gitterleib, haltloses Weinen und Flehen. Eine Gruppe junger Frauen und Mädchen, einige noch im Kindesalter, war im Inneren des dämonischen Weidenmannes gefangen. Alle trugen lange weiße Gewänder. Mehrere Fackelträger rund um das grotesk-entsetzliche Gefängnis ließen keinen Zweifel an dem, was den Frauen bevorstand.
Etzel trat neben Kriemhild, die immer noch starr am Rand des Wehrgangs stand und in den Abgrund des Hofes blickte. Das Schreien und Weinen der Frauen verschmolz zu einem fremdartigen Klangteppich, der Kriemhild umwob wie ein Gespinst aus giftigen Dornenranken.