Dort oben aber war nichts. Nur die Sonne und ein paar einzelne Raben in einem Abgrund von azurnem Blau. Nichts, nur Leere und Kälte und peitschende Winde.
Doch Jodokus wußte es besser, und er verfluchte dieses Wissen mit der gleichen Wut, mit der man einst ihn selbst verflucht hatte.
Etzel drehte den Schlüssel in der Tür des Turmzimmers und gab Kriemhild mit einem Nicken zu verstehen, daß sie eintreten dürfe. Er selbst blieb auf der schmalen Wendeltreppe zurück, deren engem Verlauf sie hinauf in die Spitze des Nordturms gefolgt waren.
Kriemhild mußte sich beim letzten Schritt zur Tür an ihm vorbeizwängen und streifte dabei seinen violetten Umhang und die Rüstung mit ihren ziselierten Mustern. Beides gehörte zur Kleidung eines Edelmannes und war doch, zumindest was Zeichnung und Stickereien betraf, eindeutig hunnischer Herkunft.
Gegen Kriemhilds Willen ließ die eigenartige Faszination, die von Etzel ausging, sie nicht kalt. Allein beim Blick in seine schmalen Augen erkannte sie in ihm den kommenden Herrscher des Hunnenreiches. Sie sah darin die ungezähmte Wildheit der Steppenvölker, das Barbarische seiner Abstammung, die Beiläufigkeit, mit er bereit war, fremdes Leben zu nehmen. Sie fürchtete und achtete ihn zu gleichen Teilen, sie haßte, aber sie mochte ihn auch. Seine Gegensätzlichkeit begann bereits, auf ihr eigenes Denken abzufärben.
Mit einem unmerklichen Kopfschütteln unterbrach sie die Berührung ihrer Blicke und trat in Berenikes Turmzimmer. Etzel zog von außen die Tür zu, doch seine Schritte entfernten sich nicht. Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, daß er mitanhören wollte, was die beiden Frauen zu bereden hatten.
»Ah«, sagte Berenike leise, »endlich bist du da.«
Sie saß in einem hohen Stuhl, fast ein Thron, mit einer Rückenlehne, die bis hinauf zur Decke reichte. Die Armlehnen hatten die Form zweier Stiere; auf ihre spitzen Hörner hatte Berenike achtlos allerlei Dokumente gespießt, die meisten vergilbt und längst vergessen.
Der Raum war kreisrund, abgesehen von einem geraden Wandstück zu beiden Seiten der Tür. Unweit des Eingangs konnte man über eine Leiter eine enge Luke erreichen, die auf das Spitzdach des Turmes führte. Kreuz und quer standen Tische, Ablagen und Truhen, auf denen sich eine Vielzahl geöffneter Schriftrollen wellte. Aufgeschlagene und geschlossene Bücher lagen verstreut in jedem Winkel. An den Wänden hingen Pergamente, eng bekritzelt mit fremdartigen Zeichen und Formen, die alles Mögliche bedeuten mochten, von Runen bis hin zu Grundrissen phantastischer Bauwerke. Auf einem Tisch waren Töpfe und Tiegel zu brusthohen Türmen gestapelt, einige lagen zerbrochen am Boden. Hinter Berenikes Stuhl ruhte auf einem Gerüst eine Scheibe mit plastischen Darstellungen von Bergen und Tälern, offenbar eine Karte der Welt. Unter der Decke, rund um die Wände, hingen Tiergerippe, zusammengehalten von Fäden, Lehm und Harz. Ein schwerer, süßlicher Geruch hing in der Luft, nicht unangenehm, beinahe wie von frischem Backwerk. Die Feuerstelle im Zentrum der Kammer glühte noch, doch das Rost, das an rußigen Ketten darüber hing, war leer.
Kriemhild deutete eine Verbeugung an, nicht sicher, wie sie sich verhalten sollte, ob fordernd oder ehrerbietig. Die Hexe hatte ohne Zweifel an Macht verloren, mochte sie in ihrem Thron auch erhaben wirken wie eh und je.
Berenike war alt, viel älter als Kriemhild sie in Erinnerung hatte. Sie hatte langes graues Haar, das ihr offen und glatt über die knochigen Schultern fiel. Ihre weiten, silberbestickten Gewänder verbargen die Form ihres Leibes, doch das magere Gesicht verriet deutlich, daß Berenike aus wenig mehr als Haut und Knochen bestand. Das Weiß ihrer Augen hatte einen leichten Gelbstich, während ihre Pupillen groß und formlos wirkten, als breite sich ihr Schwarz nach allen Seiten hin über die Augäpfel aus.
»Ich bin froh, daß du gekommen bist«, sagte Berenike mit einer Stimme, die im Widerspruch zu ihrem Äußeren melodiös, beinahe jugendlich klang.
»Als hättest du nur ein einziges Mal daran gezweifelt«, gab Kriemhild zurück.
Die Erzhexe lächelte milde. »Ich fühle Widerstand in deinem Inneren. Ich fühle Argwohn.«
»Was hast du erwartet? Freude, dich zu sehen?«
»Ich kann mich erinnern, daß du auf dem Weg hierher noch ganz anders gedacht hast.«
»Ich wußte noch nicht, welche Pläne du mit mir hattest.«
»So, so«, sagte Berenike, und ihr Lächeln wurde freundlicher, »der kleine Prinz hat dir ein paar Dinge erzählt. Er hat ein loses Mundwerk, in der Tat.«
Kriemhild blickte unwillkürlich zur Tür. Falls Etzel Berenikes Worte verstanden hatte, so bewegten sie ihn nicht dazu, sich zu erkennen zu geben.
»Und nun«, meinte die Hexe, »bist du gekommen, um die ganze Geschichte zu hören, nicht wahr? Dabei kennst du sie schon.« Sie lehnte sich müde in ihrem Stuhl zurück. »Du dummes, dummes Kind.«
»Ich kam her, um der Pest ein Ende zu machen, nicht um mich beleidigen zu lassen.«
»Wie stolz sie geworden ist, die hübsche Prinzessin.« Berenike kicherte. »Ich habe dich ganz anders in Erinnerung, mein Kind. Viel zahmer.«
»Unsere erste Begegnung liegt Jahre zurück.«
»Oh, gewiß. Du warst jünger und voller Demut.« Berenikes Augen wurden trüb, als sie direkt in die Vergangenheit zu blicken schien. »Du warst bereit, alles für dein Volk zu opfern.«
»Das bin ich noch heute.« Tatsächlich aber war sie dessen längst nicht mehr so sicher wie noch vor wenigen Tagen. Sie hatte die Bewohner eines ganzen Dorfes in den Tod geschickt, und dennoch hatte sie seitdem kaum einen Gedanken an sie verschwendet. Verhielt sich so eine Prinzessin, der nur das Wohl ihrer Untertanen am Herzen lag? Und wäre sie wirklich bereit gewesen, sich bei lebendigem Leibe verbrennen zu lassen?
Nein, entschied sie. Nein auf beide Fragen.
»Du weißt, daß Etzel mich nicht opfern wird«, sagte Kriemhild. »Er will sich das Lösegeld nicht entgehen lassen.«
»Sagt er das?« Berenike schüttelte lächelnd den Kopf. »Dieser Prinz ist ein kleiner Junge, und er hat weniger mit den übrigen Männern seines Volkes gemein, als er selbst ahnen mag. Er besitzt eine höhere Bildung und kennt die Bedeutung des Wortes Mitleid. Nicht, daß er oft Gebrauch davon macht, aber -«
Kriemhild unterbrach sie in aller Schärfe: »Mitleid, Berenike? Ausgerechnet du sprichst von Mitleid? Du hast das sichere Todesurteil über deine Schülerinnen gesprochen!«
Die Hexe blieb gelassen. Ihre langen, dünnen Finger spielten beiläufig mit den Pergamentfetzen, die auf den Stierhörnern ihrer Armlehnen steckten. »Ich war nur aufrichtig, nichts sonst. Ich verriet Etzel, was es mit dem Weidenmann auf sich hat, und ich sagte ihm, daß du herkommen würdest. Mir war klar, daß er deinen Opfertod nicht zulassen würde, und er fragte mich, welche Möglichkeiten es sonst gäbe, das kommende Unheil...« Sie brach kurz ab und überlegte - »vielleicht nicht abzuwenden, aber doch abzuschwächen.«
»Du hast damals gesagt, Gott verlange meine Unschuld, nicht mein Leben.«
»Hätte das Schicksal seinen Lauf genommen, hättest du deine Unschuld verloren. Schon auf dem Weg hierher. Vor Scham hättest du dich nicht heim zu deinen Brüdern gewagt und wärest bei mir geblieben. Als meine Schülerin.«
Kriemhild lachte bitter. »Wer schmiedet solche Pläne? Du, Berenike? Oder die Götter?«
»Oh, ich nicht, ganz gewiß nicht. Ich habe nur gesehen, daß es so kommen sollte. Und die Götter scheinen derzeit andere Sorgen zu haben. Irgend etwas ist nicht so geschehen, wie es vorgesehen war.«
»Ich sollte mich in Jodokus verlieben, um -«