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»Deine Unschuld zu verlieren, allerdings. Der Sänger hätte darüber von seinem Wahn gelassen, die Götter wären besänftigt worden, und alles wäre gut geworden.« Sie seufzte. »Aber es hat wohl nicht sein sollen. Deshalb war ein weit größeres Opfer nötig, um dem Unheil entgegenzuwirken.«

Kriemhilds Mund war trocken geworden, sie hatte Mühe, überhaupt ein Wort über die Lippen zu bringen. »Dieses Unheil, vor dem ihr alle eine solche Angst habt, ist es das, was ich denke?«

»Ja.«

»Und du glaubst allen Ernstes, der Tod deiner Schülerinnen könnte es abwenden?«

Berenike hob die Schultern. »Ihr Tod, dein Tod, wer weiß? Besser, es zu versuchen, als stillzuhalten, bis alles zu Ende ist.«

Der Gleichmut der Hexe brachte Kriemhild fast zur Raserei. »Es zu versuchen? Großer Gott, diese Frauen werden sterben!«

»Wie der Rest von uns, wenn nicht ein Wunder geschieht.«

Die Erkenntnis überkam Kriemhild mit niederschmetternder Gewißheit. »Dann hat Jodokus die Wahrheit gesagt?«

»Das kommt wohl auf den Standpunkt an. Er glaubt, daß es die Wahrheit ist, und wahrscheinlich reicht das schon aus.«

»Das ist doch Wahnsinn!« fuhr Kriemhild auf. »Der Glaube eines einzelnen kann nicht -«

»Was sonst als der Glaube ist es, das die alten Götter am Leben hält, Kriemhild? Der Glaube war immer ihre mächtigste Waffe, und er ist es auch heute noch. Was Jodokus auf seinem Rücken trägt, mag Wodans Dichtermet sein oder auch nicht - er jedenfalls glaubt daran. Grund genug für die Götter, die doch selbst nichts anderes sind als gestaltgewordener Glaube, sich seiner anzunehmen.«

Kriemhild spürte, daß ihre Hände zitterten. »Er sagt, daß sie mit ihm spielen.«

»Wenn er es sagt, dann ist es so.« Berenike streckte eine Hand nach Kriemhild aus und ergriff sachte ihren Unterarm. »Es ist leichter zu verstehen, als du denkst, süße Prinzessin.«

»Aber dieses... Spiel...« Sie hatte immer noch Mühe, etwas so Absurdes auszusprechen. »... dieses Spiel, das sie spielen, wie läuft es ab?«

»Wie immer auch die Regeln lauten mögen, die Partie steht kurz vor der Entscheidung. Das Spielbrett ist von einer Seite zur anderen durchquert, und diese Burg ist das Ziel.«

Eine grauenvolle Ahnung stieg in Kriemhild auf. Doch sie wollte, sie durfte nicht daran glauben, denn das würde alles nur noch schlimmer machen. Es reichte, daß die Hexe, ihre Schülerinnen und die Hunnen diesen Irrsinn wahrhaben wollten - und ihn damit wahrmachten.

»Das Spielbrett?« fragte sie ahnungsvoll.

Berenike schien erfreut, daß Kriemhild allmählich Zusammenhänge herstellte, denn sie lächelte gütig wie eine liebevolle Großmutter. »Das Pestland, Kriemhild. Was sonst ist es, als das Spielbrett der Götter? Jodokus hat es auf seiner Flucht kreuz und quer bereist, und überall, wohin er ging, brachte er den Keim der Seuche. Er selbst hat die Arena abgesteckt, in der man ihn an die Löwen verfüttern wird. Die Pest existiert nur, weil Jodokus existiert, weil sein Glaube und mit ihm seine Götter existieren. Das alles sind die Glieder einer Kette, die sich hier und jetzt zu einem Kreis schließt.«

»Dann hatten die Dorfbewohner recht.« Kriemhild spürte, daß ihre Knie nachzugeben drohten. Sie löste sich aus Berenikes Griff, stolperte zwei Schritte zurück und stützte sich auf eine Tischkante. »Jodokus ist König Pest!«

»Ein Name, nichts sonst«, meinte die Hexe. »Aber, zugegeben, ein recht treffender.«

»Du hast es gewußt!« Kriemhilds Stimme drohte erneut zu versagen. »Du hast es schon vor Jahren gewußt, als du mir prophezeit hast, hierherzukommen.«

Berenikes Mundwinkel zuckten, aber sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts von alldem gewußt, nicht wirklich. Ich habe bestimmte Dinge vor mir gesehen, im Traum, aber auch im Wachsein, aber ich kannte nicht die Hintergründe, nicht die Ursachen. Ich ahnte, daß es für dich nötig sein würde, hierherzukommen, und ich sah auch, daß eine Seuche der Anlaß sein würde - doch das war schon alles. Erst in den letzten Tagen habe ich begriffen, wie die Dinge tatsächlich zusammenhängen. Meine Fähigkeit ist es, in Träumen zu lesen, manchmal auch, sie zu erschaffen, aber ich weiß selten alles über ihre Bedeutung, und wenn doch, dann meist erst, wenn es zu spät ist. Kein leichtes Schicksal, glaube mir.«

»Ich verstehe nicht...«

»Komm her«, bat die Hexe und winkte Kriemhild mit gekrümmtem Zeigefinger heran. »Als ich in Worms war, da hast du mir noch von einem anderen Traum erzählt, einem Traum von Falken und Adlern. Erinnerst du dich?«

»Ich habe ihn seither wieder und wieder geträumt«, bekannte Kriemhild, konnte sich dabei aber kaum auf ihre eigenen Worte konzentrieren. »Ich ziehe einen herrlichen Falken heran. Eines Tages ist er fort. Statt seiner sitzen auf den Giebeln des Münsters zwei weiße Adler.«

Berenike nickte zufrieden. »Das war es, was du damals gesagt hast. Weißt du mittlerweile, was mit dem Falken geschehen ist?«

»Die beiden Adler haben ihn zerfleischt.«

Noch einmal nickte die Hexe. »Tritt näher, mein Kind, und ich will dir etwas zeigen.«

Kriemhild überwand ihre Scheu. Zum ersten Mal fiel ihr auf - und es war in ihrer Lage eine völlig absurde Wahrnehmung -, daß die Hexe den Duft exotischer Kräuter verströmte. Berenike hob eine Hand und schwenkte sie wie einen Fächer vor Kriemhilds Gesicht hin und her.

»Du sollst noch etwas über die beiden Adler erfahren«, flüsterte sie sanft, und im -

- selben Moment lösten sich Berenike und ihr Turmzimmer vor Kriemhilds Augen in Luft auf. Vor sich sah sie einen weiten blauen Himmel. Davor schwebten die beiden weißen Adler aus ihren Träumen, prachtvolle Tiere, und doch umgab sie eine Aura der Gefahr. Etwas Bedrohliches, ja Teuflisches ging von ihnen aus. Plötzlich schienen sie Kriemhild zu entdecken, denn aus ihrem majestätischen Schweben wurde ein steiler Sturzflug in die Tiefe - genau auf sie zu!

Doch statt ihrer selbst stand plötzlich ein anderer unter der strahlenden Himmelskuppel. Eine Gestalt in bronzefarbener Rüstung, die ihr bekannt vorkam, ohne daß sie sich in ihrem Traum zu erinnern vermochte, woher. Die einzelnen Teile des Rüstzeugs waren mit feinen Ziselierungen geschmückt. Über den Schultern der Gestalt lag ein weiter Umhang aus violettem Stoff, der aus sich selbst heraus zu leuchten schien wie Gewitterwolken über einem nächtlichen Horizont. Ein reichverzierter, gehörnter Helm verdeckte das Gesicht des Ritters; darauf flatterte ein scharlachroter Schweif in den eisigen Winden, die als Vorhut der Adler vom Himmel wehten.

Die Raubvögel stürzten sich auf den Ritter, ohne Warnung, ohne ersichtlichen Grund. Er erwehrte sich ihrer mit einem langen Spieß, und obgleich sie ihn heftig von zwei Seiten attackierten, gelang es ihm schnell, dem ersten eine tiefe Wunde zu versetzen. Sterbend trudelte das Tier davon, bis es gänzlich im unendlichen Blau verschwunden war.

Der zweite Adler aber kämpfte um so heftiger, als er die Niederlage seines Gefährten erkannte. Mit fingerlangen Krallen schlug er nach dem Ritter, zerfetzte den Umhang und hackte mit seinem Schnabel nach den Augenschlitzen des Helms. Immer wilder wurde der Kampf, immer boshafter die Angriffe des Adlers, der mal von oben, mal von hinten attackierte.

Schließlich aber, als der Vogel eine enge Schleife flog, um erneut aus einem tückischen Winkel herabzustürzen, schleuderte der Ritter den Spieß mit aller Kraft hinauf in die Lüfte. Die Spitze drang in die Brust des Adlers, und dunkles Blut färbte das weiße Gefieder, sprühte vom Himmel herab wie roter Regen. Ein letztes Mal schlugen die weiten Schwingen, dann fiel das Tier in die Tiefe, ein heller Stern, der sich vom Himmelszelt löste und auf immer verlorenging.

Der Ritter stand starr vor den blauen Sphären, ein ehrfurcht-gebietender Anblick, trotz des zerrissenen Umhangs und der Blutspuren auf seiner Brünne. Langsam legte er beide Hände an den Helm und zog ihn vom Kopf.