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Jorin schüttelte sich bei der Erinnerung an den Weg zur Festung. Als er seine Sinne wieder beisammen hatte, erkannte er, daß unten im Hof etwas Neues vor sich ging.

Das Gitterwerk des Weidenmannes war längst zusammengestürzt. Der Priester löste seinen Blick von den Flammen, um sich den Kriegern zuzuwenden. Gerade wollte er zu weihevollen Worten ansetzen, als die Männer in Unruhe gerieten. Zwei von ihnen traten vor und zerrten eine schmale Gestalt mit sich, die aus einer Wunde am Kopf blutete.

Jodokus, Anblick grub sich wie ein Eisenstachel in Jorins Herz. Hilflos mußte der Junge mitansehen, wie der Priester ein paar kurze Worte mit den Bewachern des Sängers wechselte, dann deutete er unmißverständlich auf das Feuer in seinem Rücken.

Ungerührt verfolgte der Priester, wie die beiden Krieger Jodokus zum Scheiterhaufen zerrten. Die Flammen spiegelten sich im Blick des Hunnen, und selbst für Jorin oben auf den Zinnen sah es aus, als hätten seine Augäpfel Feuer gefangen.

Lange saßen Kriemhild und Etzel auf den Stufen des Nordturms und sagten kein Wort, versunken in sorgenvollen Gedanken. Schließlich aber gab der Prinz sich einen Ruck und stand auf.

»Ich muß zurück zu meinen Männern«, meinte er und reichte Kriemhild die Hand.

Sie beachtete die Geste nicht und erhob sich ohne seine Hilfe. Der Gestank des brennenden Weidenmannes zog durch den Turm wie durch einen Kaminschacht, sammelte sich im oberen Teil und wurde mit jedem Atemzug unerträglicher. Aber Kriemhild wußte auch, daß der Odem der brennenden Frauen sie in jeden Winkel der Festung verfolgen würde und daß es keinen Zweck hatte, davor davonzulaufen.

Sie gab Etzel ebenso wie Berenike die Schuld am Tod der Hexenschülerinnen. Aber hatte er überhaupt eine andere Wahl gehabt? Der Priester und die übrigen Krieger verlangten vom Sohn ihres Herrschers, daß er sich unerbittlich zeigte. Doch allein die Tatsache, daß Etzel dem grauenvollen Ritual nicht beigewohnt hatte, verriet deutlich, daß es mit seiner Unerbittlichkeit nicht allzuweit her war. Etzel war kaum älter als Kriemhild, und sie fragte sich, wie sie selbst an seiner Stelle gehandelt hätte. Sie gab solche Gedankengänge auf, als ihr klar wurde, daß sie sich nie, niemals in einen Hunnen würde hineindenken können.

»Gestattet mir eine Frage«, bat er, als er hinter ihr die Stufen hinabstieg.

Sie gab keine Antwort, deshalb fuhr er fort: »Seid Ihr bereits einem Bräutigam versprochen?«

Sie versuchte, ihr Lachen so kalt wie möglich klingen zu lassen. »Macht Ihr Euch Hoffnungen?«

»Oh, gewiß nicht«, sagte er schnell, »zu Hause wartet bereits eine Braut auf mich.«

»Wie ist ihr Name?«

»Helche. Sie ist die Tochter eines Fürsten und mir seit ihrer Geburt versprochen.«

»Wie rührend.«

»Nicht im geringsten. Ich habe sie noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen.«

Kriemhild seufzte, und für einen winzigen Moment schienen sie sich beide an einem Ort außerhalb jeder Gefahr zu befinden, wo sie nichts anderes waren als zwei Königskinder, die über Dinge sprachen, die nur für Menschen ihres Standes Bedeutung hatten. »Einst hatte mein Vater ähnliche Pläne mit mir«, sagte sie. »Doch als er starb, hob mein Bruder die alten Versprechungen auf und gewährte mir das Recht, an der Entscheidung teilzuhaben.« Sie zögerte einen Moment, ehe sie abrupt das Thema wechselte. »Sagt, warum habt Ihr eigentlich die Festung nicht längst verlassen?«

»Der Priester hat darauf bestanden, das Ritual zu vollziehen.«

»Und Ihr opfert ohne weiteres Euer eigenes Leben für den Starrsinn eines anderen?«

»Noch besteht die Möglichkeit, daß das Ritual die Götter besänftigt.«

Kriemhild verzog abfällig das Gesicht, erwiderte aber nichts. Sie durchschaute Etzels wahre Beweggründe: Wenn er mit ihr als Geisel heimkehrte, dazu mit dem Bericht des Priesters, daß der Prinz eine heraufziehende Götterdämmerung abgewendet hatte, war Etzels Thronfolge nicht länger nur eine Frage der Abstammung. Man würde seine Taten im ganzen Hunnenreich besingen.

Ein markerschütternder Schrei riß sie aus ihren Gedanken.

»Das kam vom Hof!« Etzel drängte von hinten gegen sie. Kriemhild mußte die letzten Stufen mit weiten Sätzen hinabspringen, um nicht unter seinem Anprall zu stolpern. Im Erdgeschoß stieß er sie grob beiseite und stürmte hinaus ins Freie. Kriemhild folgte ihm ohne Groll. Sie rannten durch eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern und erreichten den freien Platz im Norden der Festung.

Der Weidenmann war bis auf das Pflaster heruntergebrannt. Die Flammen schlugen immer noch mannshoch aus der Asche, doch es war abzusehen, daß sie bald verlöschen würden. Im Gewirr der Überreste des Götzen waren die verbrannten Leichen der Frauen nicht mehr zu erkennen; unmöglich zu sagen, was Zweige und was verkohlte Knochen waren.

Vor dem Feuer standen zwei Hunnen und hielten eine Gestalt, die sich verzweifelt zur Wehr setzte. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Kriemhild Jodokus. Die Hunnen machten Anstalten, ihn ins Feuer zu stoßen!

Sie schrie wutentbrannt auf und wollte vorstürzen, doch Etzel packte sie am Arm und riß sie zurück.

»Laßt mich los!« brüllte sie ihn an und schlug mit den Faust auf ihn ein.

Etzel aber beachtete sie kaum. Er sah auch nicht zu Jodokus hinüber. Statt dessen war sein Blick hinauf zu den Zinnen gerichtet. Dort stand, unweit einer Reihe von Kisten und Fässern, ein Hunnenkrieger und stützte sich mit beiden Händen auf die Mauer. Er hatten ihnen allen den Rücken zugewandt und schaute über die Zinnen hinweg ins Tal. Dabei rührte er sich nicht, als sei er vor Entsetzen zu Stein erstarrt.

Da erst begriff Kriemhild, daß es nicht Jodokus gewesen war, der den furchtbaren Schrei ausgestoßen hatte.

Etzel rief etwas in der Sprache des Hunnenvolkes zu dem Mann hinauf. Der Krieger antwortete nicht. Erst als auch der Priester die Stimme erhob, wandte der Mann sich langsam um. Selbst gegen den hellblauen Himmel war deutlich zu erkennen, wie bleich er geworden war. Seine Augen waren weit aufgerissen. Stockend rief er einige Worte in den Hof hinunter, und sogleich ging ein aufgeregtes Raunen durch die Reihen der Hunnenkämpfer. Die beiden, die Jodokus festhielten, rührten sich nicht; in der Aufregung hatte ihr Auftrag an Bedeutung verloren.

Etzel nahm sich nicht die Zeit, Kriemhild irgend etwas zu erklären. Er ließ sie los und stürmte auf die nächstgelegene Treppe zu, die hinauf zum Wehrgang führte. Kriemhild wollte ihm folgen, doch mehrere Krieger verstellten ihr den Weg. Etzel rief ihnen, ohne sich umzudrehen einen Befehl zu, so daß sie eilig zurücktraten. Sogleich sprang Kriemhild hinter dem Prinzen die Stufen hinauf. Einige Hunnen wollten den beiden folgen, doch der Priester hielt sie mit keifenden Rufen zurück. Was immer der Wächter auf den Zinnen entdeckt hatte, es ließ den Priester um seine Autorität fürchten.

Kriemhild holte Etzel noch auf der Treppe ein. Gemeinsam traten sie an die Zinnen und blickten in die Richtung, in die der Wächter gedeutet hatte.

Der Anblick war enttäuschend und beruhigend zugleich. Vor ihnen wogte das weiße Nebelmeer und deckte das Tal mit seinen Schwaden vollkommen zu. Erst nach einigen Herzschlägen fiel Kriemhild auf, daß die Tannen und Fichtenwipfel, die noch bei ihrer Ankunft an einigen Stellen aus dem Dunst geschaut hatten, verschwunden waren. Ein Blick an der Burgmauer hinab bestätigte, ihr daß sich der Nebel gehoben hatte, um mindestens vier oder fünf Mannslängen. Die Klippe, auf der Berenikes Hort ruhte, war bereits im Nebel versunken wie ein leckgeschlagenes Schiff, und nun griffen die Dunstarme auch nach den Granitmauern.

Etzel fuhr den Wächter gereizt in seiner Sprache an, und der Mann erwiderte etwas.